Diese Schule wurde von Schülern und
Anhängern von V.A. Vazjulin
(30.08.1932-08.01.2012), Professor
der Philosophischen Fakultät der Moskauer Staatlichen
Universität ins Leben gerufen, einem Denker, dessen Schaffen
in gewisser Hinsicht eine neue Etappe in der
Wissenschaftsentwicklung eröffnete. Professor Vazjulin
erforschte theoretisch den Entwicklungsprozess der
Sowjetgesellschaft und der Menschheit insgesamt und unterzog
parallel dazu den Marxismus und die klassische sowjetische
Philosophie und Wissenschaft der 1950-60er Jahre einer
kritischen Prüfung. Er schuf dabei eine eigenständige
Konzeption der Gesellschaftstheorie, der dialektischen Logik
und der Wissenschaftsmethodologie.
Zu den wissenschaftlichen Leistungen V.A.
Vazjulins gehören die folgenden:
1.
Aufdeckung der Logik des theoretischen Teils des
"Kapitals" von Karl Marx durch eine systematische
kategoriale Erfassung des politökonomischen Materials mit
einer parallel dazu erfolgenden kritischen Analyse von
Hegels "Wissenschaft der Logik". Das ermöglichte ihm eine
Methodologie einer entwickelten wissenschaftlichen
Untersuchung, einer entwickelten Wissenschaft von der
organischen Totalität auszuarbeiten. Im Rahmen dieser Logik
und Methodologie werden in "reiner Form" das Aufsteigen vom
Abstrakten zum Konkreten in Einheit mit dem Aufsteigen vom
Sinnlich-Konkreten zum Abstrakten, das Logische in Einheit
mit dem Historischen, das vernünftige in Einheit mit dem
verstandesmäßigen Denken herausgearbeitet.
2.
Konkret-historisches Verständnis des Marxismus als
eines wissenschaftlichen Systems, das sich durch Entstehung
und Lösung gesetzmäßiger Widersprüche entfaltet, und zwar
als eines Systems unterschiedener und zugleich innerlich
zusammenhängender Bestandteile, die sich jeweils auf einer
bestimmten Etappe ihrer Entstehung und Entwicklung befinden.
Die logisch-methodologische Untersuchung der Geschichte des
Marxismus (unter dem Aspekt der Methodologie der Politischen
Ökonomie des Kapitalismus - seines am höchsten entwickelten
Bestandteils) erlaubte es V.A. Vazjulin, erstens, die
Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche (die notwendigen Irrtümer
usw.) der Entstehung einer wissenschaftlichen
Forschungsweise, d.h. der Bewegung des Denkens von der
Oberfläche zum Wesen des Gegenstandes aufzuspüren, und,
zweitens, seine Forschungsanstrengungen auf eine
perspektivreiche Entwicklungsrichtung des Marxismus zu
konzentrieren.
3.
Die schöpferische Weiterentwicklung der
wissenschaftlichen Forschungsmethode von Marx versetzte V.A.
Vazjulin in die Lage, den systematischen inneren
Zusammenhang der Gesetze und Kategorien einer
Gesellschaftstheorie aufzudecken, die die Struktur einer
entwickelten Gesellschaft widerspiegelt, und zugleich eine
theoretische Periodisierung der Menschheitsgeschichte (die
Gesetzmäßigkeiten ihres Anfangs, ihrer Urbildung, ihrer
Entfaltung und Reife) durch das Prisma der Wechselwirkung
von naturhistorischen und sozialen Faktoren vorzustellen.
Die wissenschaftlichen Entdeckungen von
V.A.Vazjulin und besonders die Entdeckung der Logik der
Geschichte schufen die Möglichkeit für eine begründetere und
gesichertere Erkenntnis und Antizipation der
Gesetzmäßigkeiten dr Entwicklung der Gesellschaft, als dies
dem klassischen Marxismus gelingen konnte. Zugleich
eröffneten sie eine Etappe der darauffolgenden dialektischen
Entwicklung des Marxismus durch "Aufhebung" des historischen
Materialismus und des Formationsansatzes.
Die prognostische Stärke der Theorie und
Methodologie V.A.Vazjulins hat sich seit den 1970er Jahren
nicht nur einmal bewährt. Der theoretische Ansatz der
Logik der Geschichte hinsichtlich der Grundfragen der
gesellschaftlichen Entwicklung (der Frage nach den
"frühsozialistischen" Revolutionen, nach der extensiven bzw.
intensiven Entwicklung der Produktivkräfte, nach der
formellen und reellen Vergesellschaftung der Produktion
usw.) liefert einen Schlüssel zum Verständnis der objektiven
Ursachen für eine Reihe gesellschaftlicher Erscheinungen und
eröffnet dabei ein ganzes Spektrum von Forschungsrichtungen.
Da wäre z.B. die Frage nach den Ursachen des Sieges der
kapitalistischen Konterrevolution und Restauration im
Unterschied zu ihrer vorherrschenden Reduktion allein
auf den subjektiven Faktor, die Frage nach den Perspektiven
der Menschheit u.a..
Vazjulns Konzeption entstand in einer
bestimmten historischen und erkenntnistheoretischen
Situation als "wissenschaftlicher Versuch der
Revolutionierung der Wissenschaft" und theoretische
Erfassung der tiefsten Bedürfnisse der Menschheit. Die
Gegenwart diktiert die Notwendigkeit einer weiteren und
offensichtlich noch gründlicheren Entfaltung des
erkenntnistheoretischen und heuristischen Potentials dieser
Konzeption.
Es bleibt zu bemerken, dass das Schaffen
vonV.A.Vazjulin auf wissenschaftlichem und pädagogischem
Gebiet im Innersten mit seiner Lebensposition zusammenhängt.
Die Tätigkeit für die Gesellschaft und um der Gesellschaft
willen, der Kampf für die Entwicklung der Gesellschaft,
Zielstrebigkeit und selbstlose Arbeit für die optimale
Verwirklichung der aus dieser Lebensposition folgenden
Herausforderungen, feinfühliges und tiefgründiges
Verständnis der Probleme, die Bereitschaft, auf alle
erdenkliche Weise Hilfestellungen bei der Entfaltung und
Selbstentdeckung des schöpferischen Potentials der Menschen
zu leisten - das alles sind Züge der Persönlichkeit von
V.A.Vazjulin, die in seinem Verkehr mit anderen Menschen
überhaupt und in der philosophischen Kommunikation mit
seinen Schülern besonders ausgeprägt sind.
Es ist schwer, in der Wissenschaft ein
Revolutionär zu sein, wenn Bedingungen einer Offensive gegen
sie seitens verschiedener Kräfte, Gruppen und spießiger
Neigungen eingetreten sind. Es ist noch schwerer, sich dabei
die Lebenswichtigkeit der Entwicklung der
Gesellschaftstheorie bewusst zu machen und seine
Anstrengungen unbeirrt und zielgerichtet dieser Theorie zu
widmen.
Viktor Alekseevič Vazjulin ist Inspirator
und wissenschaftlicher Leiter des internationalen Kollektivs
der Schule "Logik der Geschichte".
Der
Text beruht auf dem Artikel "V.A.Vazjulin" in Bd.1 der
fünfbändigen griechischen Philosophischen Enzyklopädie.
Verlag Kapopulus, Athen 1994-1995
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