Viktor A. Vazjulin
Nach dem Sieg der Konterrevolution - den welthistorischen Übergang zum Kommunismus denken
Gespräch
in Moskau[1]
Professor Vazjulin, Sie können in Ihrem sechzigsten Lebensjahr
auf ein an wissenschaftlichen Entdeckungen und menschlichen
Beziehungen reiches Leben eines Forschers und unbequemen Hochschullehrers zurückblicken,
der immer wieder neue Studenten- und Doktorandengenerationen in den Bann
seiner entwicklungstheoretischen Denkmethode zog. Wie beurteilen Sie am
Ende der sowjetischen Periode der philosophischen Entwicklung in Ihrem Land die
gegenwärtige geistige Atmosphäre, das philosophische Klima?
Da ich marxistische Positionen vertrete, kann ich diese Frage nur beantworten, wenn ich die Veränderungen in anderen Sphären unseres gesellschaftlichen Lebens berücksichtige. Bekanntlich hat sich bei uns im August 1991 ein schon Jahre zuvor vorbereiteter Wechsel der Gesellschaftsordnung vollzogen: zunächst in Form des politischen Machtwechsels, seit Ende 1991 durch Einführung einer veränderten Gesetzgebung, eines neuen Kredit- und Finanzsystems, heute als sich erdrutschartig beschleunigender Privatisierungsprozess, der die Etablierung der verschiedensten kapitalistischen Eigentumsformen vermutlich auch noch bis 1993/1994 fortsetzen wird. Das Land kehrt zu einer welthistorisch im wesentlichen überlebten Produktionsweise zurück, und zwar auf eine Weise, die es infolge des chaotischen Zerfalls des früher einheitlichen Wirtschaftssystems in ein Anhängsel der entwickelten kapitalistischen Welt verwandeln wird. Dieser Prozess geht selbstverständlich einher mit grundlegenden Veränderungen im geistigen Leben unserer Gesellschaft, die sich gleichfalls in den zurückliegenden Jahren angekündigt hatten, und die der Widersprüchlichkeit dieses historischen Rückfalls entsprechen: Zum einen handelt es sich um die Wiedergeburt der verschiedensten Strömungen und Etappen bürgerlichen Denkens, ob in der Form bloßer Rezeption oder versuchter Nachahmung. Da sich der Realprozess aber in groben, primitiven, eher der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals adäquaten Formen abspielt, haben wir es auch im geistigen Leben heute mit der Renaissance eher grober, primitiver Formen bürgerlichen Bewusstseins zu tun. Ein Rückschritt in der Geschichte wurde schon immer von der Zerstörung früherer Ideale, dem Verlust jeglicher Zukunftsvorstellungen und der Empfindung von Ausweglosigkeit begleitet. Kaum verwundern kann daher die Hinwendung auch zu vorbürgerlichen Philosophien und Religionen, zu mittelalterlichen, selbst heidnischen Idealen, der Rückgriff auf diverse östliche (indische, chinesische, japanische) Glaubens- und Denkströmungen, und natürlich die Besinnung auf die eigenen nationalen Traditionen. In all diesen Formen wird der Akzent auf den Irrationalismus, den religiösen, mystischen Gehalt der entsprechenden Traditionslinie gesetzt. Übrigens erweckt selbst unsere führende Philosophiezeitschrift derzeitig den Eindruck einer Schriftenreihe zu Religionsfragen. Und unsere Modephilosophen arbeiten genau in jenen Richtungen.
Was ich aber unterstreichen will,
ist folgendes: Das aufflammende Interesse an all diesen Strömungen, und
insbesondere an der russischen Philosophie
der Jahrhundertwende, verdankt sich keineswegs den Errungenschaften dieser Strömungen als solcher,
sondern vielmehr der allgemeinen Lage im Lande. Welche dieser Richtungen an
Einfluss gewinnen wird, ist wesentlich davon abhängig, ob und in welchem
Grade es unseren Machthabern gelingen wird, die Wirtschaftsordnung
kapitalistisch auszurichten. Einen
zunehmenden Einfluss der russisch-nationalen Glaubens- und Denktraditionen wird es unter allen Umständen
geben, ist bereits aktuell zu
beobachten und auch insofern unvermeidlich, als unser Land in die Lage der unterentwickelten, ärmsten und abhängigen
Länder geraten wird.
Wie sehen Sie den Platz der klassischen russischen
Philosophie innerhalb der Entwicklung der
Weltphilosophie?
Ich muss gestehen, dass ich
besondere Errungenschaften dieser Philosophie nicht
erkennen kann. Selbst wenn man Solovjev als ihren
bedeutendsten Vertreter betrachtet,
so ist er, jedenfalls in meinen Augen, im Vergleich zu Hegel ein Zwerg. Was z.B. die Idee der Totalität
betrifft, so war diese in ihrer höchsten Form bereits von Hegel entwickelt
worden. Die religiöse Überformung dieser Idee durch Solovjev hat m.E. nichts Neues zur Entwicklung der Philosophie beigetragen. Allerdings
spielte sie in sozialpolitischer Hinsicht eine Rolle für den
Versuch, die russisch-orthodoxe Kirche zu
reformieren, die in ihrer damaligen Verfassung eine mittelalterliche geblieben
war. Solovjev wollte die geistigen Grundlagen für
die Reformation der Orthodoxie in einem, wie mir scheint, mehr
westlichen Stil und Geist legen. Dass sein Versuch von wenig Erfolg gekrönt
war, hat er sich wohl selbst noch
eingestehen müssen; unsere Kirche aber ist bis auf den heutigen Tag im wesentlichen eine mittelalterliche
geblieben.
Wie ist es gegenwärtig um den Marxismus in
Ihrem Land bestellt?
Der Marxismus ist in der Öffentlichkeit faktisch nicht mehr vertreten - es gibt ihn nicht mehr. Marxistische Arbeiten werden nicht mehr publiziert. Was veröffentlicht wird, ist eine Reihe von Versuchen der Anpassung des Marxismus an diese oder jene der genannten Strömungen, eklektische Mischungen aller nur denkbaren Lehren, pseudomarxistische Interpretationen des Marxismus. In einer Atmosphäre des moralischen Terrors gibt es heute keinerlei Freiheit für die Entwicklung der marxistischen Philosophie in unserem Land. Für diejenigen, die diesen Terror ausüben, mag er unbemerkt bleiben, ja unbeabsichtigt sein, sie mögen sich selbst nur als Verfechter bestimmter anderer Richtungen wahrnehmen. Doch genügt es in einem Land wie dem unseren vollkommen, von oben ein bevorzugtes Verhältnis zur Orthodoxie oder Religion überhaupt zu verkünden, um alles, was sich dem nicht beugt, auszuschalten. Mittels der Medien wird ein enormer Druck ausgeübt. Der Marxismus wird mit Faschismus gleichgesetzt , in ihm sucht man die Quelle für die schlimmsten und grausamsten Auswüchse des Totalitarismus, er wird kurzum für sämtliche Nöte des Landes in der Vergangenheit, Gegenwart und vermutlich auch noch in der Zukunft verantwortlich gemacht. In einer solchen Atmosphäre kann es keinerlei mehr oder weniger normale Existenzbedingungen, geschweige denn Entwicklungschancen für den Marxismus mehr geben, ganz abgesehen von den fehlenden materiellen Möglichkeiten in der Ära der "ursprünglichen Akkumulation", des Aufblühens von Spekulantentum und mafiosen Strukturen. Die materiellen und ideellen Publikationsmöglichkeiten konzentrieren sich derzeitig bei Leuten, die dem Marxismus direkt oder indirekt feindselig gegenüberstehen, oder bei denen zumindest eine bewusste oder unbewusste Allergie gegen den Marxismus entstanden ist.
Insofern befindet sich heute der
Marxismus in unserem Land in einer derart
miserablen Lage, wie wohl in kaum einem anderen Land der Welt, zumindest der kapitalistischen Welt.
Wie stellt sich die Situation konkret an Ihrer
Fakultät dar?
Auch hier
sind alle Richtungen vertreten, die ich bereits nannte. Obwohl der
Pluralismus der Anschauungen offiziell verkündet wurde, hat man beispielsweise
den Lehrstuhl abgeschafft, an dem ich zuvor zur Geschichte der
marxistischen Philosophie forschte und lehrte. Gegenwärtig arbeite ich am Lehrstuhl
für Ethik. Es gibt Leute an der Fakultät, die in gewissem Grade Verständnis
zeigen. Bisher gab es auch keinen direkten Versuch, mich zu entlassen.
Aber selbstverständlich ist die Fakultät in den allgemeinen Wandel einbezogen, der das
Bewusstsein der Bevölkerung beherrscht und natürlich auch um die
Studentenschaft keinen Bogen macht. Wo aber der
Marxismus in der Öffentlichkeit unwidersprochen aller nur denkbaren Verbrechen bezichtigt wird, wird die Vermittlung
selbst nur der Geschichte der Marxschen Theorie an Studenten de facto unmöglich
gemacht. Dabei ist es nicht einmal entscheidend, ob eine Fakultät das gestattet
oder nicht. Mir scheint, daß die Beseitigung
unseres Lehrstuhls gerade aus solchen
allgemeinen Rücksichten auf die geistige Stimmung im Land betrieben wurde. Das ist keine Schuldfrage,
das Problem liegt weder bei einzelnen
Personen, noch bei einer einzelnen Fakultätsleitung. Die Lage hier
widerspiegelt nur die im ganzen übrigen Land. Das ändert natürlich nichts daran, dass diese Lage,
gerade auch an unserer Fakultät, schlichtweg
als erbärmlich einzuschätzen ist. Nicht nur bei uns, auch am Philosophieinstitut der Akademie zahlt man
ausgesprochen niedrige Gehälter.
Wenig Hoffnung gibt es auf das Überleben in den jetzt herrschenden
kommerziellen Strukturen der Wissenschafts- und Publikationsorganisation.
Kommerzielle Strukturen befördern bestimmte, ihnen selbst verwandte geistige Richtungen, Editionen - ganz nach Konjunktur. Einige Philosophen lernen schneller,
andere langsamer, sich an die Situation anzupassen, einige aufrichtiger,
andere weniger... Diese Lage wird sich nur
langfristig in Abhängigkeit von den Veränderungen der gesamtgesellschaftlichen Lage, der
wirtschaftlichen, politischen und geistigkulturellen Verhältnisse
verändern können. Wenn jemand dabei noch die Vorstellung von
geistiger Freiheit hegen sollte, so unterläge er einer sehr großen,
tiefgehenden Illusion. Es gibt Freiheit für einige, grob gesagt für die, die sie vorher nicht hatten, und umgekehrt.
Ich selbst habe früher nie "oben" gestanden, sondern
gegen die dogmatischen Verkehrungen des Marxismus angeschrieben. Konnte ich früher
wenigstens noch einiges, oft mit
5-10-jähriger Verzögerung publizieren, ist das jetzt praktisch völlig
ausgeschlossen. Natürlich stehe
ich mit dem Problem nicht allein da.
Professor Vazjulin, am
Beginn Ihres wissenschaftlichen Weges stand die Erforschung der Marxschen Methode, insbesondere des "Kapitals"
von Marx - sicherlich nichts Ungewöhnliches für die
"ML"-dominierte Atmosphäre der fünfziger-sechziger Jahre. Wodurch war Ihr persönliches
Interesse an Marxens Hauptwerk
hervorgerufen, und welche noch ungelöste Aufgabe stellten Sie sich bei seiner Erforschung?
Was die Atmosphäre der fünfziger Jahre betrifft, so entstand ein Interesse an der wirklichen Erforschung der Marxschen Dialektik entgegen Ihrer Annahme bei sehr wenigen. Im Unterschied zu den zwanziger und dreißiger Jahren - da gab es ein echtes Interesse, aber es führte kaum zu realen Untersuchungen des Marxschen Denkprozesses. Es wurde nur nacherzählt, was Marx geschrieben hatte, vor allem was in der Einleitung zu den "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" von 1857/58 stand. Diese Tradition wurde vor allem durch M.M. Rozental weitergegeben. Übrigens waren weder diese Literatur der zwanziger-dreißiger Jahre, noch die nicht einmal übersetzten "Grundrisse" selbst damals allgemein zugänglich.
Erst mit Iljenkovs Arbeiten - er war noch Aspirant und völlig unbekannt - beginnt hier eine neue Etappe, und zwar noch bevor sich das gesellschaftliche Umfeld für solcherart Grundlagenforschung verbesserte, die ja vorher ausschließlich einer Person, nämlich Stalin vorbehalten war. Iljenkovs Fragestellungen hinsichtlich der Dialektik in der politischen Ökonomie hoben sich scharf von dem allgemeinen Hintergrund einer philosophischen Lehre ab, von der niemand recht zu sagen wusste, wozu sie überhaupt gut war - zumindest empfand ich es damals so. Sie trug im wesentlichen propagandistischen Charakter. Bei Philosophiehistorikern wie Asmus, Oizerman, Trachtenberg herrschte der nackte Empirismus, der mir wenig gehaltvoll erschien und mich abstieß. Evald Iljenkov dagegen, den ich heute noch für einen der besten Philosophen der sowjetischen Periode dieses Landes halte, obwohl mich von Beginn an wesentliche theoretische Differenzen von ihm trennten, brachte Leben in diese Lehre. Wenig später gestaltete sich schließlich das Klima für die philosophische Beschäftigung mit Problemen nichtpropagandistischen Charakters günstiger, milder - nach der Veröffentlichung des Beschlusses über den Personenkult 1956. Die Kritik am Stalin-Kult, die unvorbereitet und unter dem Einfluss der egoistischen Interessen und ungebildeten Vorstellungen Chrustschovs vorgetragen wurde, führte jedoch, und das ist ihre Kehrseite, zur Verbreitung eines nihilistischen Verhaltens besonders der damaligen Studenten zur Wirklichkeit und in gewissem Maße auch zur marxistischen Philosophie. Dieser Nihilismus war noch kein zynischer, wie er erst zu Zeiten des völligen Zusammenbruchs blüht. Da bei uns darüber hinaus jeder neue Regent die Wirtschaftspolitik umzuwälzen pflegt, um noch tiefere Spuren in der Geschichte zu hinterlassen, begann man seit Ende der fünfziger Jahre Anleihen für den neuen Kurs bei bürgerlichen Politökonomen aufzunehmen und bei ihnen nach Antworten auf die Frage nach dem weiteren Weg zu suchen. Zu etwas anderem waren die unter Bedingungen dogmatisierten Denkens aufgewachsenen Speichellecker Chrustschovs nicht in der Lage. Sie konnten in Negation der Wirtschaftspolitik Stalins nur das übernehmen, nachahmen, was es anderswo schon gab. Das bemerkte übrigens auch V. Leontiev.
Um auf den
zweiten Teil Ihrer Frage zurückzukommen: Mir schien es, dass von marxistischer Seite das
Denken, der Denkprozess nicht wirklich erforscht worden war. Und dieses Problem
habe ich mir gestellt. Weil ich bislang
keine systematische marxistische Untersuchung der Struktur und Entwicklung des Denkens entdecken konnte, auch
nicht bei Iljenkov. Während der Ausarbeitung meiner Diplomarbeit, die
dem ersten Kapitel des "Kapital" gewidmet war, spürte ich
bereits, dass es im "Kapital" ein streng systematisches Denken gab.
Und dass dieses noch von keinem ernsthaft analysiert worden war - und übrigens
bis heute selbst als Problem kaum erfasst wird.
Damals entstand Ihre Konzeption
des Denkens als naturhistorischer Prozess...?
Ja, insofern
ich zeigen wollte, wie das Denken systematisch arbeitet, wie es sich tatsächlich vollzieht.
Marx' "Kapital" bot diese Möglichkeit. Es war - und meines Erachtens ist bis heute - das einzige
Material, das sich für eine
derartige Untersuchung in einem solchen Maße eignet: Man kann in ihm den Gedanken beinahe anfassen, empfinden, wie
ein Mensch wirklich und konsequent
denkt - was einem darüber hinaus einen hohen ästhetischen Genuss gewährt.
Womit hing
die Schwerpunktverlagerung Ihrer Forschungen - vom "reifen" hin zum jungen
Marx, zur Genese seiner Wissenschaftsmethode zusammen? Ihre Position
unterscheidet sich ja erheblich von der im westlichen Marxismus gängigen
Entgegensetzung des Marxschen Früh- und Spätwerks.
Der Übergang zum jungen Marx hing vor allem damit zusammen, dass das "Kapital" ein Resultat ist, das man tiefgründiger nur durch den Prozess begreift, der zu ihm geführt hat. Ich verfolgte aber auch noch ein anderes Ziel. Wenn man den Prozess untersucht, erkennt man die gesetzmäßige Rolle von Irrtümern, kann deren Struktur, ihre Notwendigkeit und die Ablösung der einen Irrtümer durch andere näher bestimmen. Die Wahrheit als Prozess wird immer von Irrtümern begleitet, und wenn wir wissen, auf welchem Niveau, von welchen Irrtümern sie begleitet wird, können wir uns bewusster zu ihnen verhalten, vorhersehen, welche Irrtümer uns auf welcher Etappe der Wahrheitsfindung begegnen werden. Diese Seite der Untersuchung blieb allerdings völlig unverstanden, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Meine Monographie trug einerseits antidogmatischen, andererseits antirelativistischen Charakter. Ich versuchte die Etappen, die Struktur von Irrtümern im Zusammenhang mit der Wahrheitsfindung zu bestimmen und entdeckte, dass nicht nur das Resultat, sondern auch der Prozess selbst über eine bestimmte Ordnung, Abfolge der Gedankenbewegung verfügt, über eine kategorial erfassbare Struktur der Bewegung des Gedankens zur Wahrheit. Der Mensch besitzt eine gesetzmäßige kategoriale Denkstruktur. Natürlich verfügt nicht jeder Mensch über die Gesamtheit dieser kategorialen Struktur, aber die Menschheit insgesamt schon. Der Prozess der Erkenntnis der Wirklichkeit durch die Menschheit verläuft gesetzmäßig.
Im Westen verfolgten die
Untersuchungen einfach andere Zielstellungen. Ob
es einen Bruch zwischen dem jungen und späten Marx gibt oder nicht - diese Frage ist ganz anderen Sorgen und
Interessen geschuldet. In meinen Augen
ist allein schon die Fragestellung undialektisch, das
sind Pseudofragen, die in einer
entfremdeten Gesellschaft entstehen, welche fragmentarische, mosaikhafte Denkmethoden befördert.
Mich hat immer die Entwicklung von
Marx' Ideen interessiert. Weil der
Marxismus nur als sich entwickelnde Gesamtheit von Anschauungen existieren
kann. Wenn er sich nicht entwickelt,
ist er schon kein Marxismus mehr. Wenn sich Menschen bei der
Untersuchung der Marxschen Anschauungen keine neuen
Aufgaben stellen, sind das schon keine
Marxisten mehr.
Das Verständnis der kategorialen Denkstruktur
des Erkenntnisprozesses eröffnete
Perspektiven, die die Wahl Ihrer hauptsächlichen Forschungsrichtung, die
Untersuchung der Logik der Geschichte, seit Mitte der siebziger Jahre offenbar maßgeblich mitbestimmten. Könnten
Sie über diese Perspektiven Näheres berichten?
Die Herausarbeitung dessen, was Marx geleistet hat, zeigt sowohl das, was er nicht geleistet hat, als auch die historische Beschränktheit dessen, was er leisten konnte. Ohne die Erforschung der Anschauungen eines Wissenschaftlers in ihrer Entwicklung kann man nicht dessen historische Grenzen begreifen. Der Marxismus hat sich bei uns über lange Zeit im wesentlichen nicht entwickelt und daher in sein Gegenteil verkehrt.
Mit der Entdeckung der Logik des "Kapital" war die Entdeckung einer bestimmten historischen Stufe des Denkens der Menschheit, ihres kategorialen Apparates, ihrer Methode verbunden. Nicht irgendeines einzelnen Subjekts, sondern des kategorialen Reichtums, über den die Menschheit verfügt. Das hatte auf seine Weise bereits Hegel geleistet, mit - seinem Idealismus geschuldeten - Einschränkungen. Ich hielt es für notwendig, die Entwicklungsgeschichte des Denkens, der Methode des Denkens der Menschheit nunmehr im Rahmen der gesamten Weltgeschichte näher zu beleuchten. Dies zum einen.
Zum anderen bewegte sich Marx selbst von der Erforschung des Kapitals zur Erforschung der Geschichte der Gesellschaft, was freilich nicht von allen so gesehen wird.: Viele glauben, dass beispielsweise die "Chronologischen Auszüge" nur irgendwelche Detailfragen behandelten. Ich denke dagegen, dass dieser Schritt eine notwendige Konsequenz aus der Erforschung des Kapitals darstellt, weil anders die bestimmende Rolle des materiellen Lebens in der Gesellschaft nicht in vollem Maße begründbar ist. Zur Zeit der Niederschrift des "Kapitals" war sie ja im Marxismus auch mitnichten als Problem gelöst. Das hat auch Bernstein sehr wohl gesehen und Marx dafür kritisiert, ohne allerdings selbst Lösungsansätze entwickelt zu haben.
Und zum
dritten hat bereits Marx gezeigt, dass der Kommunismus ein Produkt der
Entwicklung der gesamten Menschheit ist. Ist er also ein welthistorisches Produkt, muss man auch
den entsprechenden Prozess erforschen, der zu ihm führt.
Die Anerkennung einer Logik der Geschichte, d.h.
eines einheitlichen gerichteten
Entwicklungsprozesses der Gesellschaft gilt vielen westlichen Geschichts-
und Sozialwissenschaftlern als "Große Erzählung" des 19.
Jh. oder zumindest "alteuropäische Denktradition", mit denen die
Moderne oder gar Postmoderne längst
nichts mehr anzufangen weiß. Wie begründen Sie die Notwendigkeit,
gerade die Logik der Geschichte zu erforschen, welche Aufgabe haben Sie
sich dabei gestellt?
Was den benannten westlichen Standpunkt betrifft, so beweist die Weigerung, Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses anzuerkennen, lediglich die Verwurzelung in der bürgerlichen Gesellschaft, auf deren Boden ihre Selbstwahrnehmung als ewige notwendig reproduziert wird. Auch ist wachsende Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Kompliziertheit im Gegenstand einer Wissenschaft kein Argument gegen die Existenz von Gesetzen, von Einheit, Notwendigkeit - man sehe sich nur die modernen Naturwissenschaften an, mit ihren Wahrscheinlichkeitstheorien usw..
Der historische Prozess kennt Gesetze ohnehin nur als Tendenzen, die sich mit bestimmter Wahrscheinlichkeit in einer Masse gegensätzlicher Zufälligkeiten den Weg bahnen, er beinhaltet immer eine Menge von Möglichkeiten - er ist stets alternativ. Und doch können dominierende Tendenzen in diesem Prozess erkannt werden.
Mir scheint, dass eine aktuelle
Grundlage für die Ablehnung von Gesetzmäßigkeiten des
Geschichtsprozesses heute in der Wahrnehmung der Gesellschaft als selbstzerstörerischer liegt. Was kann es da schon für
eine Gesetzmäßigkeit geben? Wir sind in eine Sackgasse
geraten, zerstören uns selbst, sind
drauf und daran, uns selbst zu vernichten. Ich denke hingegen, dass es hier eine Gesetzmäßigkeit, wie
auch eine Alternative gibt. Der Mensch,
das einzelne Individuum ist erst dann fähig, sich selbst umzubringen, wenn er sich seiner selbst als Mensch
bewusst geworden ist. Ein Tier begeht keinen Selbstmord, ich glaube, so etwas
kommt unter Tieren generell nicht vor. Das kann nur der Mensch, und zwar
erst ab einer bestimmten Entwicklungsstufe.
Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, diese hohe Entwicklungsstufe, ist zugleich verbunden mit der Möglichkeit
seiner freiwilligen Selbstnegation.
So auch bei der Menschheit. Sie ist auf dem Wege der Selbstzerstörung
- aber dennoch gibt es Fortschritt, neben der Vielfalt gibt es Einheit. Nicht
als Einheitlichkeit, Einfalt, Eintönigkeit, sondern dialektisch - als Zusammenhang, Einheit des
Verschiedenartigen, nicht als äußerliche Gleichförmigkeit. Ein
Gesetz in der Geschichte aufzudecken, bedeutet vom dialektischen Standpunkt her, dem inneren Zusammenhang des
Prozesses nachzuspüren - und das heißt, seiner Einheit: dem Zusammenhang des Inneren und dem Zusammenhang des
Verschiedenartigen. Ob es von diesem
fünf, zehn, hundert oder tausend gibt, ist völlig unerheblich. Wer historische Gesetzmäßigkeiten
leugnet, besitzt in der Regel einfach kein Instrumentarium für ihre
Erkenntnis. Wenn Sie mit dem Spaten nicht bis
zur Erdölschicht vordringen können, bedeutet das noch lange nicht, dass es dort kein Öl gibt. Man sollte
dann zunächst den Spaten gegen eine moderne Bohranlage eintauschen
und sein Urteil überprüfen. Um historische Gesetze zu erkennen,
bedarf es schon einer adäquaten Denkmethode
- ich vermute, dass ein Großteil der westlichen Sozialwissenschaftler die dialektische Denkmethode nicht beherrscht,
obgleich sich viele das kleine
Instrumentarium des Marxismus zu eigen gemacht haben.
Der Übergang der
Menschheit zu einem neuen Typ ihrer Entwicklung gehört zu Ihren zentralen
Forschungsgegenständen. Sehen Sie die theoretischen Konsequenzen Ihrer
"Logik der Geschichte" hinsichtlich der historischen Notwendigkeit des Kommunismus durch
die Umbrüche in Ihrem Land und ganz Osteuropa in Frage gestellt?
Nein, ich denke nicht. Es gibt in
der Geschichte keine Geradlinigkeit. Zickzacks,
Unterbrechungen, Rückwärtsbewegungen gehören ebenso dazu, wie Revolutionen von Konterrevolutionen
begleitet werden. Was wir gegenwärtig in den Ländern
Osteuropas und in der ehemaligen UdSSR erleben, bezeichne ich als eine Periode von Konterrevolutionen. Sie weisen natürlich
eine Reihe von Unterschieden auf, da
die sozialistische Revolution in unserem
Land wesentlich inneren Quellen entsprang, während sie sich in den anderen
Ländern in nicht geringem Maße unter Anwesenheit sowjetischer
Truppen vollzog. Dort nimmt die Konterrevolution heute einen vergleichsweise
raschen Verlauf, bei uns trifft sie auf weitaus größeren Widerstand und wird sich um ein vieles qualvoller hinziehen,
auch aufgrund der territorialen
Dimensionen. Konterrevolutionen sind keine Seltenheit: In der Entstehung der bürgerlichen
Gesellschaft hat sie fast jedes europäische Land durchgemacht, aber auch in der Entstehungsphase
jeder anderen Formation sind sie fast unvermeidlich. Bisher hat aber
auch jede Konterrevolution Aufgaben gelöst,
die in einem bestimmten Moment der Gesellschaftsentwicklung dringend zu lösen
waren - die Frage ist nur, welche Tendenz den Prozess dominiert. Warum
gab es nach der Großen Französischen Revolution eine Konterrevolution? Weil die Thermidorianer
offenbar in höherem Maße
den herangereiften bürgerlichen Verhältnissen Rechnung trugen
- aber dennoch war es eine Konterrevolution. Und auch heute muss gefragt
werden, warum die Konterrevolutionäre das Volk für sich gewinnen konnten. Doch nicht, weil sie es betrogen
haben, sondern weil eine Fülle
von Problemen einer Lösung harrte, komplizierte, widersprüchliche gesellschaftliche Bedürfnisse angestaut waren
- die Frage ist nur, auf welchem
Weg man sie löst. Und so bleibt es vom Standpunkt der historischen
Perspektive trotz allem eine Konterrevolution... Für den Spießer ist
dieser gegenwärtige Zusammenbruch
der endgültige Tod des Kommunismus. Der Übergang zu einer nichtantagonistischen Gesellschaft kann aber
nur als welthistorischer Prozess der Überwindung
nicht nur irgendwelcher Züge des kapitalistischen Lebens, sondern
des ganzen bisherigen Entwicklungstyps der Menschheit begriffen werden - die objektiven
Voraussetzungen für diesen Übergang, für eine
Vereinigung der Menschheit und die
kooperative Aneignung der Bedingungen ihrer planetaren Existenz aber reifen in der Gegenwart heran. Wenn sich die
Menschheit nicht infolge eines Weltkrieges oder eines ökologischen
Kollapses selbst vernichtet, ist der
Kommunismus unausweichlich.
Gestatten Sie eine letzte Frage:
Woran arbeiten Sie gegenwärtig ?
Immer noch
an Problemen der weltgeschichtlichen Entwicklung, und zwar im Zusammenhang mit der
Erkenntnis, dass der Marxismus, die marxistische
Forschungsmethode, der historische Materialismus als historisch entstandene
und historisch vergängliche Denkformen aufzuheben sind - natürlich
nicht im bürgerlich-ideologischen Sinne. Dies wurde schon im Nachwort meiner letzten Monographie angedeutet.
Z.B. ist die Vorstellung aufzuheben,
dass die Marxsche Einteilung der Geschichtsepochen in
ökonomische
Gesellschaftsformationen etwas Absolutes, Unveränderliches darstellt. Der
Formationsbegriff mit seinem einheitlichen Klassifikationskriterium,
den Produktionsweisen, ist zwar völlig
berechtigt, aber, wie ich denke, einseitig. Aus der Sicht des gegenwärtigen
Stadiums der Weltgeschichte muss deren Periodisierung die Veränderung,
Entwicklung der Periodisierungsbasis selbst
berücksichtigen: In der Geschichte der Menschheit verändert,
entwickelt sich nicht nur der konkrete Inhalt von Produktivkräften,
Produktionsverhältnissen und ihrer Dialektik, von Überbauverhältnissen und gesellschaftlichen Bewußtseinsformen, sondern auch die Produktivkräfte
an sich, die Produktionsverhältnisse, z.B. die Wechselbeziehung zwischen Produktion, Konsumtion,
Distribution und Zirkulationen sich - d.h.
es verändert sich das Allgemeine selbst. Und das hat Marx faktisch nicht
untersucht. Die Kriterien der Entwicklung entwickeln sich selbst. Wenn die
wissenschaftliche Betrachtung der Entwicklung der Gesellschaft zeigt, dass der
allgemeine Gang der Geschichte durch Zufälle, Umwege, Brüche notwendig
zum Kommunismus führt, so ist das eine Notwendigkeit, die selbst
historisch entstanden ist, sich entfaltet, entwickelt hat, und zwar in der und
durch die Tätigkeit, das Handeln von Menschen unter sich verändernden,
entwickelnden Bedingungen. Ich denke, dass eine historische Periodisierung die Stadien des Entwicklungsprozesses der
Gesellschaft als Einheit von Natürlichem und Sozialem, von Äußerem
und Innerem, Unwesentlichem und Wesentlichem zugrunde legen muss: Es ist
ein Prozess der Entstehung des Sozialen aus dem Natürlichen und dessen Umgestaltung durch das Soziale. Das Natürliche
(die äußere wie innere Natur
des Menschen) muss organisch in die ganzheitliche, systematische Erforschung
der Weltgeschichte der Menschheit einbezogen werden, und das habe ich in meiner Arbeit versucht. Der darin
entwickelte Ansatz ist m.E.
allgemeiner als die materialistische Geschichtsauffassung, die als wissenschaftliche Wahrheit durch neue Forschungen
nicht völlig überwunden, aber doch als in ihrem Anwendungsbereich begrenzt
erkannt werden kann. Aus Sicht einer höheren Gesellschaftsstufe - und
Voraussetzungen für eine solche Sicht sind längst herangereift - sind
die materialistische, wie ihr Gegenteil,
die idealistische Geschichtsauffassung so relative Standpunkte, wie ihre
Basis, die gesellschaftliche Arbeitsteilung in körperliche und geistige
Arbeit, historisch relativ, also überwindbar ist. Mit anderen Worten: Da
es heute bei Strafe des Untergangs der
Menschheit um viel mehr als nur die Aufhebung des
kapitaldominierten
Entwicklungstyps von Gesellschaft geht, die zu Marx´ Zeiten noch unmittelbar im Vordergrund stand
und seine Forschungsrichtungen und Lösungswege
determinierte, da es um die Überwindung der gesamten Vorgeschichte
der Menschheit geht, muss eine Verschiebung
der Perspektiven, eine andere Akzentuierung der Problemstellungen vorgenommen werden - in Aufhebung der historischen, nicht persönlichen
Begrenztheit der Marxschen Theorie und Methode. Und hier bleibt noch viel zu tun.
( zuerst abgedruckt in der Zeitschrift Marxistische
Erneuerung – Z. –
Herausgegeben vom Forum
Marxistische Erneuerung e.V. (Frankfurt/M.) und dem IMSF e.V.
Nr. 14, Juni 1993)
[1] Überschrift der Red. “Z” . Das Gespräch mit Viktor A. Vazjulin, Professor an der Philosophischen Fakultät der Lomonossow Universität, Moskau, führten Gudrun Havemann, Wladimir Kosel und Manolis Dafermakis in Moskau im April und im Oktober 1992.
Von V.A. Vazjulin liegen in russischer Sprache u.a. folgende Monographien vor: Die Logik des "Kapitals" von Karl Marx, Moskva 1968 (Logika "Kapitala" K. Marksa);
Das Werden der Methode der wissenschaftlichen Untersuchung von K. Marx, Moskva 1975 (Stanovlenie metoda naucnogo issledovanija K. Marksa);
Die Logik der Geschichte. Fragen der Theorie und der Methodologie, Moskva 1988 (Logika istorii. Voprosy teorii i metodologii). In "Marxistische Studien - Jahrbuch des IMSF 12" (1987) erschien ein Beitrag Vazjulins mit dem Titel "Das Historische und Logische in der Methodologie von Karl Marx".