War
der sozialistische Kurs der Oktoberrevolution ein Fehler?
Von
Jelena und Alexander Charlamenko (Moskau)
Den achtzigsten Jahrestag der Großen
Sozialistischen Oktoberrevolution haben wir in einer Situation zu begehen, die solchen
Jubiläen nicht günstig ist.
Nach der Niederlage des Frühsozialismus in den Ländern Ost-
und Mitteleuropas ist die Zeit des Zweifelns und Schwankens sowohl in diesen
Ländern selbst, als auch unter Linken der übrigen Welt angebrochen.
Bedauerlicher-, aber auch verständlicherweise waren sie daran
gewöhnt, sich an den Erfahrungen der UdSSR und ihrer Verbündeten zu
orientieren - ob im positiven oder negativen Sinne.
Auf die welthistorische Bedeutung des
Oktobers verweist in paradoxer Art auch die Tatsache, daß viele, wenn nicht
sogar die Mehrheit der linken Parteien der Welt sich weniger der theoretischen
und praktischen Arbeit auf der Grundlage ihrer Länder gewidmet hatten, als
vielmehr mit der Klärung ihres Verhältnisses zu den Bolschewiki und
deren Nachfolgern befaßt waren. Dieses Verhältnis war mannigfacher
Art und reichte von Apologie bis zu wütender Entlarvung. Nur selten
gründete es sich auf eine tiefere theoretische Analyse des
Gegenstandes und noch seltener trug es
zu einer solchen Analyse bei. In der
Heimat der Revolution selbst wurde das Verhältnis zu ihr erst recht nicht
Gegenstand einer nüchternen historisch-philosophischen Erforschung und
wird es wohl auch in naher Zukunft nicht werden. Die Oktoberrevolution bleibt
im Zentrum des ideologischen Kampfes -
ein Heiligtum für die einen, ein Alptraum für die anderen. Beide Seiten nehmen dabei in der Geschichte
bestenfalls nur diejenigen Tatsachen
wahr, die die eigene Position stützen, schlimmstenfalls kommen sie ganz
ohne Tatsachen und Argumente aus, was letztlich dazu führt, daß die
notwendige Diskussion gleichsam durch den Dialog zwischen tauben Leute ersetzt wird.
Und doch gibt es für einen marxistischen
Wissenschaftler in der Situation der erzwungenen Unterbrechung in der Praxis
sozialistischer Umgestaltungen nur eine Weise, wirklich für die Zukunft zu
arbeiten, nämlich ernsthaft Theorie zu betreiben - in Erinnerung dessen, daß dem Geist
des Marxismus sowohl jegliche Apologie, auch die des Marxismus selbst, als auch
ein pragmatisches Verhältnis zur Theorie als Instrument konjunktureller
Praxis widerspricht. Dazu ist auch
erforderlich, die in mindestens drei Varianten verbreitete Behauptung über
die Unzeitmäßigkeit der sozialistischen Revolution und die Fehlerhaftigkeit
des sozialistischen Kurses zu analysieren.
In der ersten Variante wird der
„sozialistische Umsturz“ als Ergebnis
böswilliger Handlungen eines Grüppchens von Verschwörern
dargestellt, die dem unglücklichen Russland ihren Willen aufgezwungen und
es im Namen des utopischen Ideals sozialer Gerechtigkeit für ein
dreiviertel Jahrhundert von der Weltzivilisation losgerissen hatten. Genauso
stellt sich die Sache für unsere hausbackenen radikalen Neoliberalen dar -
für die Verehrer von P.A. Stolypin, der die
Dorfgemeinde zerstört und die Revolution von 1905-1907 erstickt hatte.
Keineswegs lassen sie sich durch den
Umstand verunsichern, daß der Anführer der „bösartigen
Verschwörung“ selbst nicht nur einmal die Unmöglichkeit eines
erfolgreichen Aufstandes in einer einzelnen Stadt, geschweige denn einer Revolution
in einem ganzen Land verdeutlichte, solange diese sich nicht auf breite Massen
stützten. Würde man solchen
Leuten Glauben schenken, so wären die Bolschewiki größere Blancisten als Louis
Blanc persönlich und das russische
Volk der Revolutionsepoche noch passiver und leichtgläubiger gewesen, als
die heutige Wählerschaft von Jelzin.
Die zweite Variante vertreten jene, die sich
als nationalpatriotische Opposition der Neoliberalen verstehen. Sie negieren
keinesfalls die soziale Gerechtigkeit, doch verbinden sie diese
ausschließlich mit dem
eigenständigen Entwicklungsweg Russlands, der sich prinzipiell vom
westlichen unterscheide. Einige von
ihnen leiten die russische Eigenart -
wie schon vor ihnen Graf Uvarov als Chefideologe des
Zaren Nikolai I.- aus der Selbstherrschaft, der Orthodoxie und dem russischen
Volkstum ab. Andere sehen ihre Wurzeln im traditionellen Kollektivismus der
Dorfgemeinde und suchen zu beweisen, daß die russische
„traditionelle“ Gesellschaft vor 1917
den Kapitalismus mit seiner Klassenteilung und seinen Klassenantagonismen
erfolgreich abgewehrt hätte. Beide Spielarten des Nationalpatriotismus
stimmen aber darin überein, daß der bolschewistische Oktober den
Strom bodenständiger Entwicklung des Landes unterbrochen, ihm die fremde,
westeuropäische, marxistische Doktrin übergestülpt und damit die
Grundlagen für unsere urwüchsige soziale Gerechtigkeit und bzw.
oder für die russische
Machtherrlichkeit untergraben hätte.
Beide hier skizzierten Erklärungsmuster
stellen einen Mischmasch aus
Ideenkonstrukten von vorgestern dar, veraltet schon im Moment ihrer
Entstehung, zusätzlich gespickt mit
postmoderner Theorieabstinenz. Sie
entbehren jeglicher real-historischer Faktenbasis und stellen darüber
hinaus an die Bolschewiki einander ausschließende
Ansprüche - schon für sich genommen Grund genug, sie nicht ernst zu
nehmen.
Etwas anders steht es mit der dritten
Variante. Ihre Anhänger berufen
sich auf den Marxismus, d.h. auf eine wirklich ernst zu nehmende Theorie, und
versuchen, die historischen Tatsachen mit seiner Hilfe zu interpretieren. Sie treten im Namen eines kaum zu
übertreffenden orthodoxen Marxismus auf und kritisieren den
bolschewistischen Oktober für seinen sozialistischen Kurs. Sie
unterstreichen allerorts den Rückstand Russlands hinter dem führenden
und zivilisierten Europa und ziehen daraus den Schluß: In einem so
rückständigen Land konnten zwar die Voraussetzungen für eine
bürgerliche, keinesfalls aber für eine sozialistische Revolution
heranreifen. Folglich mußte der
Versuch selbständiger sozialistischer Umgestaltungen das Land in riskante
Experimente im Sinne von Kasernenkommunismus, Staatskapitalismus,
Kriegsfeudalismus oder gar asiatischem Despotismus treiben, bei dem der Staat
ausnahmslos jeden und alles unterjocht. Weil Russland zuvor nicht alle Aufgaben der bürgerlichen
Revolution gelöst hatte, konnte es sich nicht die westliche Zivilisation
aneignen und fand keine Unterstützung im zivilisierten Sozialismus Westeuropas
- ein solches Ergebnis ist nur konsequent und sogar unvermeidlich.
Vermutlich hatte Lenin gerade solche Leute im
Blick, als er über einen davon 1917 schrieb: „Er wäre bereit, die
soziale Revolution anzuerkennen, wenn die Geschichte ebenso friedlich, ruhig,
glatt und akkurat an die Revolution heranführte, wie ein deutscher D-Zug
in die Bahnhofshalle einfährt. Der würdevolle Schaffner öffnet
die Wagentüren und ruft: Haltestelle Soziale Revolution. Alle aussteigen!“[1]
Nun lassen sich zwei Arten von zivilisierten Marxisten
ausmachen. Die einen, wie seinerzeit Plechanow und Kautsky, sind
bereit, ruhig im Wagen sitzen zu bleiben und abzuwarten, bis der Zug die
Haltestellen „Manufakturkapitalismus“,
„Bürgerliche Revolution“ und „Industrielle Revolution“ passiert hat
und in den Bahnhof „Soziale Revolution“ einfährt. Den anderen liegt es eher wie Trotzkij ( dessen Heldentaten heutige „Enthüller“
aus irgend einem Grunde permanent den Bolschewiki unterschieben, wobei
vergessen wird, daß Trotzkij formal bis Mitte
1917, de facto aber bis ans Ende seines Lebens Menschewik blieb) vor der
Lokomotive her zu stürmen, doch stets auf eben demselben Gleisbett und an
eben denselben Bahnhöfen vorbei. Ob
die Endstation umbenannt werden
muß, ist egal - bleibt sie nur an derselben Stelle.
Die heutigen Nachfolger von Kautsky suchen uns davon zu überzeugen, daß
Lenin ihre Position teilte und zitieren dazu einen Ausschnitt aus dessen
Artikel „Über das Genossenschaftswesen“, in dem „wir zugeben müssen,
daß sich unsere ganze Auffassung vom Sozialismus grundlegend
geändert hat.“[2] Es lohnt sich jedoch, das Zitat
fortzusetzen, um sich davon zu überzeugen, daß sie sich vergeblich
mühen: „Diese grundlegende Änderung besteht darin, daß wir
früher das Schwergewicht auf den politischen Kampf, die Revolution, die
Eroberung der Macht usw. legten und auch legen mußten. Heute dagegen
ändert sich das Schwergewicht so weit, daß es auf die friedliche
organisatorische „Kultur“arbeit verlegt wird“[3].
Hier ist gar keine Rede von einer Veränderung der Anschauungen etwa
über das gesellschaftliche und private Eigentum, den Charakter der Macht,
über das Wesen und die Folgen der Revolution. Und die Kulturarbeit wird -
völlig einsichtig - nicht vor, sondern nach der Revolution in den
Vordergrund gerückt, wofür es sehr gute Gründe gibt.
Die Weltgeschichte ist nun einmal keine
vorbildliche deutsche Eisenbahnstrecke, welche die Züge - die einen
früher, die anderen später, aber immer genau nach Fahrplan -
zurücklegen und dabei immer dieselben Haltestellen passieren. Eisenbahnzüge
rollen über ihre Schienen, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. In der
Geschichte ist das anders. Der letzte, der den Zug nach der oben beschriebenen
Fahrtrichtung anführte, ohne allerdings die Station „Soziale Revolution“
je zu erreichen, war der Maschinist Otto von Bismarck. Hinter ihm schaltete das
Signal auf Rot.
Warum?
Die Antwort auf diese Frage ist bereits mindestens seit 80 Jahren
allgemein zugänglich, ohne daß ihr jemals genügend
Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Jeder weiß, daß die
kapitalistischen Länder auf einer bestimmten Entwicklungsetappe eine
stürmische koloniale Expansion entfesselten, in deren Resultat weniger
entwickelte Länder in die Sphären ihres wirtschaftlichen und
politischen Einflusses geraten. Das ist der Grund für den Unterschied: Die
Ressourcen der Kolonien und abhängigen Länder werden im Grunde von
nun an nicht mehr auf die eigene
Entwicklung, sondern auf die der Metropolen gelenkt. Dadurch gelingt es den Ländern der
abhängigen Peripherie, solange sie in dieser Lage verbleiben, prinzipiell
nicht mehr ein solches Niveau von „Zivilisiertheit“ zu erlangen, das für
ihre Ankunft an der Haltestelle „Soziale Revolution“ nötig wäre. Die Kapitalisten der Metropolen ihrerseits
haben es nicht sonderlich eilig, dort anzukommen und teilen sich ihre
Extraprofite aus der Ausbeutung der abhängigen Peripherie mit den
Werktätigen, damit auch diese sich nicht zu sehr beeilen ... . Ein direkter Weg erweist sich für beide
Gruppen von Ländern als versperrt.
Zivilisierte Marxisten sollten sich auch
nicht so sehr auf die Klassiker
berufen. Zu deren Zeit war der Weg
über die sozialistische Revolution und den Aufbau des Sozialismus in den
führenden Ländern Europas noch offen.
Vielleicht wäre, wenn Bismarck ein bornierter Abenteurer gewesen
wäre und eine Politik der kolonialen Expansion forciert hätte, eine
von folgenden Möglichkeiten eingetreten: entweder hätte eine
sozialistische Revolution stattgefunden oder die imperialistischen Kriege um
die Aufteilung und Neuaufteilung der Einflußsphären wären
früher entfesselt worden. In diesem
Falle hätte schon Engels in seinen
letzten Lebensjahren die neue, noch nicht herrschende, aber sich bereits einen
Weg bahnende Tendenz entdecken können. In der Realität fiel diese
Entdeckung Lenin zu.
Das russische Imperium gehörte zu den
Ländern der abhängigen Peripherie. Seit dem 16. Jahrhundert lieferte
Russland Rohstoffe, seit Ende des 18. Jahrhunderts Agrarprodukte an die
westeuropäischen Metropolen. Die industrielle Revolution begann in
Russland erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und war weder vor dem ersten,
noch vor dem zweiten Weltkrieg vollendet. Eine klassische Entwicklung des
Kapitalismus war dem Land nicht möglich, ebenso wenig ein klassischer Weg
zur Haltestelle „Soziale Revolution“.
Hatten die Bolschewiki das alles schon zu Zeiten
des Weltkrieges und der Revolution erkannt? Wohl kaum. Die Tendenz war noch nicht allzu
offensichtlich. Aber etwas konnte bemerkt
werden - und Lenin hat es bemerkt.
Noch während der Revolution von 1905
hatte er die Menschewiki für ihre sklavische Fixierung auf das - nicht
einmal beste - westeuropäische Beispiel kritisiert. Nach der Oktoberrevolution, bereichert durch
die Erfahrung des imperialistischen Weltkrieges und die revolutionäre
Situation in Europa und schon über seine eigene Imperialismus-Konzeption
verfügend, begann er zu begreifen, dass die Entwicklung einer
proletarischen Revolution aus den inneren Widersprüchen des reifen
Kapitalismus nicht mehr die hauptsächliche Entwicklungsrichtung sein
konnte. Und dass die proletarische Revolution nach einem Sieg
möglicherweise auch nicht zu einem unmittelbaren Übergang zum
Sozialismus führte. Und dass unser Land in dieser Beziehung nicht den
europäischen Metropolen, sondern den abhängigen Ländern Asiens
verwandt war.
Lenins letzte Arbeiten zeichnen sich durch
geschärftes Augenmerk für die Suche nach neuen Wegen des
revolutionären Prozesses aus.
Seit Ende 1922 bzw. Anfang 1923 war Lenin
klar, dass sich die Hoffnung auf einen schnellen Sieg der proletarischen
Revolutionen in Europa nicht erfüllte. Doch zog er daraus mitnichten die
Schlußfolgerung, dass damit der Revolutionszyklus zu Ende sei. Er rief
nicht dazu auf, das Land in den gemäßigten und akkuraten Rahmen der
bürgerlichen Demokratie zu führen. Im Gegenteil. Auf die Frage, wie
„die westeuropäischen kapitalistischen Länder ihren Entwicklung zum
Sozialismus vollenden werden“, antwortete er: „...sie vollenden diese
Entwicklung nicht so, wie wir es früher erwartet haben. Sie vollenden sie
nicht dadurch, dass der Sozialismus in diesen Ländern
gleichmäßig „ausreift“, sondern auf dem Wege der Ausbeutung der
einen Staaten durch die anderen, auf dem Wege der Ausbeutung des ersten
während des imperialistischen Krieges besiegten Staates, verbunden mit der
Ausbeutung des gesamten Ostens.“[4]
Ein solcher Entwicklungsweg sichert den
Metropolen eine zeitweilige soziale und politische Stabilisierung, aber nur um
den Preis der Verschärfung aller dem Kapitalismus eigenen
Widersprüche in wesentlich
größeren geographischen und demographischen Dimensionen als zu
früheren Zeiten..
Die abhängigen Länder sind „von einer Entwicklung erfasst...,
die zwangsläufig zu einer Krise des gesamten Weltkapitalismus führen
muß.“[5] Der Osten „wurde ... endgültig in den
allgemeinen Strudel der revolutionären Weltbewegung hineingerissen. ...
die ganze Welt (tritt) jetzt bereits in eine Bewegung ein..., die die
sozialistische Weltrevolution zur Folge haben muß.“[6]
Lenin war der marxistischen Theorie seiner
Zeit um Jahrzehnte voraus, indem er auf diese Weise die antiimperialistische
Bewegung nicht als eine bürgerlich-demokratische auffaßte, sondern
als ihrem Wesen nach sozialistische, die sich jedoch von der früheren
europäischen Arbeiterbewegung infolge anderer historischer Bedingungen
unterschied. Natürlich musste das
zeitliche Ausmaß eines solchen Revolutionszyklus auch seinem
räumlichen entsprechen. Nach den europäischen Ereignissen zwischen
1916 und 1923 griffen die revolutionären Erschütterungen
zunächst auf Asien über, um dann nach Europa zurückzukehren und
sich sodann wieder in Asien sowie Lateinamerika und Afrika auszubreiten. Erst
jetzt sind wir Zeitzeugen des Abschlusses des ersten Zyklus einer
Weltrevolution.
Nicht weniger bezeichnend ist auch der
folgende Umstand: Indem Lenin die
Mittellage Russlands zwischen dem imperialistischen Westen und dem kolonial
abhängigen Osten konstatierte, stellte er es hinsichtlich der Perspektiven
des revolutionären Prozesses in einen engen Zusammenhang nicht mit dem
Westen, sondern mit dem Osten. Er war der Ansicht, daß Russland, Indien,
China und ihnen ähnliche Länder die Mehrheit der Weltbevölkerung
stellen, die „mit ungewöhnlicher Schnelligkeit in den Kampf um ihre
Befreiung hineingerissen (wird), so dass es in diesem Sinne nicht den
geringsten Zweifel darüber geben kann, wie die endgültige Entscheidung
des Kampfes im Weltmaßstab ausfallen wird. In diesem Sinne ist der
endgültige Sieg des Sozialismus vollständig und unbedingt gesichert.“[7]
Als eines der Länder der abhängigen
Peripherie der kapitalistischen Welt konnte Russland natürlich nicht auf eine
Revolution nach dem Muster der Länder des „zivilisierten“ Europa hoffen.
„Russland, das an der Grenze steht zwischen den zivilisierten Ländern und
den erstmalig durch diesen Krieg endgültig in die Zivilisation
einbezogenen Ländern, den Ländern des gesamten Ostens, den
außereuropäischen Ländern“ konnte und musste „gewisse
Eigentümlichkeiten aufweisen..., die natürlich auf der allgemeinen
Linie der Entwicklung der Welt liegen, die aber die russische Revolution von
allen vorangegangenen Revolutionen der westeuropäischen Länder
unterscheiden“.[8]
Insbesondere musste der Unterschied darin
bestehen, dass die Revolution hier nicht unmittelbares Vorspiel zum Sozialismus
werden konnte, sondern erst einmal Möglichkeiten für die Schaffung
seiner Voraussetzungen zu eröffnen hatte. „Wenn zur Schaffung des
Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist ..., warum sollten wir
also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen
für dieses bestimmte Niveau zu erringen, und dann schon, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der
Sowjetordnung, vorwärtsschreiten und die anderen Völker einholen.“[9]
Diese Sätze stammen aus dem Jahre 1923,
doch eine ganz ähnliche Fragestellung lässt sich schon in Lenins
vorrevolutionären Arbeiten auffinden. In ihnen findet sich weder die
Absicht, die Revolution in den
bürgerlichen Rahmen zu pressen, noch das Bestreben, den
„Sozialismus von heute auf morgen einzuführen“. Im Gegenteil, Lenin weist
entschieden beide Absichten zurück und bleibt damit einer der tiefsten
marxistischen Grundüberzeugungen treu: den Volksmassen kann keine
Handlungsweise aufgezwungen werden, für die sie noch nicht reif sind oder der sie längst entwachsen sind. Der
Sozialismus läßt sich nicht „einführen“, er kann nur aus dem
praktischen Kampf der Volksmassen für ihre dringendsten Bedürfnisse
heraus wachsen.
Welcher Art waren nun diese Bedürfnisse im Jahre 1917 unter
den Bedingungen Russlands?
Warum wurde, wie einer der heutigen Kritiker
Lenins zugibt, keineswegs durch die Bolschewiki, sondern durch „die kollektiven
Beschlüsse des II. Allrussischen Sowjetkongresses ein prinzipieller Fehler zugelassen, indem die
soziale Revolution, d.h. die unmittelbare sozialistische Wahl des Landes,
verkündet wurde“?[10]
Selbstverständlich können dort, wo es
historische Alternativen gibt, Fehler begangen werden. Aber ist nicht das
Ausmaß der Fehler etwas zu grandios, wenn auch noch der ganze Weg der
sozialistischen Umgestaltungen nach der Oktoberrevolution dazugezählt
wird? Kann tatsächlich die
Tätigkeit von Millionen Menschen in einem solchen
Maße durch die Irrtümer einiger hundert Kongressabgeordneter
bestimmt werden? Und sollten sich die
Massen ihrerseits so tiefgehend getäuscht haben, so fragt sich auch hier
wieder - warum? Ein Ansatz für die
Beantwortung dieser Frage liegt in den folgenden Worten Lenins: “Wie aber, wenn
die völlige Ausweglosigkeit der Lage, wodurch die Kräfte der Arbeiter
und Bauern verzehnfacht wurden, uns die Möglichkeit eines anderen
Übergangs eröffnete, um die grundlegenden Voraussetzungen der
Zivilisation zu schaffen, als in allen übrigen westeuropäischen
Staaten? Hat sich denn dadurch die allgemeine Linie der Entwicklung der
Weltgeschichte geändert?“[11]
Die Weltgeschichte hat gezeigt, daß
immer und überall, wo eine Revolution die unterdrückten Massen in
Bewegung gesetzt hat - und das ist eben das Kennzeichen einer Volksrevolution -
ihre führenden Abteilungen zum „Sturm des Himmels“ antraten, d.h. derartig
radikale Umgestaltungen einzuleiten versuchten, dass diese nur wenig Chancen
auf Verwirklichung bzw. Bewahrung besaßen. Auf diese Weise irrten nicht
nur die Bolschewiki, sondern schon die Pariser Kommunarden, die Jakobiner, die
englischen Leveller, die Anführer des
Bauernkrieges in Deutschland, die tschechischen Taboriten und sogar die
frühen Christen.
Die Spezifik der Revolution als einer
besonderen Form geschichtlicher Bewegung besteht darin, daß die
Revolution immer gezwungen ist, Grenzen
zu überschreiten, jenseits derer sie sich dauerhaft gar nicht halten kann.
Und das kommt daher, dass in einer Volksrevolution nicht nur die
Widersprüche zwischen den Klassen als den Trägern der veralteten und
neuen Produktionsweise zum Ausdruck kommen. Eine fast noch größere
Rolle spielt in ihr der Widerspruch zwischen allen Arbeitenden, Ausgebeuteten
und Unterdrückten und allen Arten von Ausbeutung und Unterdrückung,
unabhängig davon, inwieweit diese sich historisch bereits überlebt
haben.
In einem solchen revolutionären Maximalismus steckt eine tiefe Wahrheit: Nur der „Sturm des
Himmels“ ermöglicht es den Unterdrückten überhaupt, Hoffnung zu
schöpfen und menschliche Würde zu erlangen, um die für den Kampf
nötige Standfestigkeit auszuprägen. Ohne derartige „Fehler“ ist es
noch nie gelungen und wird es nie gelingen, auch nur die elementarsten von den
herangereiften oder
überfälligen Umgestaltungen zu erkämpfen und gegen die
Angriffe der Unterdrücker zu verteidigen.
Alle Versuche, einen solchen Sturm in die engen Bahnen selbst des
allerbesten Minimalprogramms zu lenken, endeten regelmäßig mit der
Isolierung solcher Kräfte von ihrem „himmelstürmenden“ Volk bzw. mit
ihrem Untergang.
Eine Revolution anzuführen gelang nur
solchen Parteien und Führern, die es vermochten, die Richtung dieses
Aufbruchs der unterdrückten Massen zur unmittelbaren Beseitigung jeglicher
Unterdrückung aufzugreifen und sich an die Spitze des Zuges zu
setzen. Erinnern wir uns nur an das
Schicksal der spanischen Revolution in den 30er Jahren, der chilenischen und
portugiesischen in den 70er, der mittelamerikanischen der 80er Jahre. Ihre
Führer waren infolge der internationalen Bedingungen gezwungen,
überall den „Himmelssturm“ aufzuhalten, und erwiesen sich in der
ausweglosen Klemme zwischen Konterrevolution und radikalen Linken, die nicht
nur die Ungeduld, sondern auch den ungestillten sozialen Protest der
arbeitenden Bevölkerung zum Ausdruck brachten.
Denken wir uns in die Situation hinein, die
Lenin veranlasste, von der völligen Ausweglosigkeit der Lage der Massen am
Vorabend des Oktober zu reden. Die Bolschewiki mussten
die Macht ergreifen - weil sonst, so warnte er, „die Hungernden alles kurz und
klein schlagen werden, ja sogar rein anarchistisch“[12].
Hätten sich die Bolschewiki gegen den „Himmelssturm“ aufgelehnt, wären sie
von der Macht vertrieben worden, am wahrscheinlichsten durch
Sozialrevolutionäre und einen Teil der Anarchisten und „Linkskommunisten“.
Erinnert sei an den Kampf gegen den Brester Frieden
bis hin zu den Ereignissen vom 6. Juli 1918. Wenn man Lenins Aufsatz „Über
‘linke’ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit“ liest, lässt sich
die Gewalt dieser spontanen antibürgerlichen Aufwallung gut nachempfinden.
Einige Male drohte sie, die proletarische Herrschaft hinweg zu fegen, sogar
dann noch, als diese selbst in dem für die Ärmsten zentralen Punkt -
der Getreidefrage und dem Problem der Machtposition der Sowjets - den
Ultralinken die Initiative aus der Hand nahm, die am weitesten links
befindliche Flanke besetzte und damit
die Möglichkeit erhielt, „linke“ Dummheiten einzudämmen.
Und wenn Lenin nicht solche „Fehler“ begangen
hätte wie die „rotarmistische Attacke gegen das Kapital“ und den
„Kriegskommunismus“? Wäre dann aus
der Petrograder Kommune eine Sowjetrepublik
hervorgegangen, und hätte sie sich länger halten können als die
Pariser Kommune? Lenin stellte nach dem
Übergang zur NÖP mehrfach selbst diese Frage und verneinte sie. So
sagte er auf dem XI. Parteitag der RKP (B): “Die neue Wirtschaft begannen wir
auf völlig neue Art aufzubauen, ohne Rücksicht auf irgend etwas
Altes. Und hätten wir mit ihrem Aufbau nicht begonnen, so wären wir
gleich in den ersten Monaten, gleich in den ersten Jahren aufs Haupt geschlagen
worden. Aber das bedeutet nicht, daß wir uns darauf versteifen, die neue
Ökonomik, die wir mit so grenzenloser Kühnheit begonnen haben, nun
auch unabänderlich in der gleichen Weise fortzuführen.“[13]
Nehmen wir einmal das Unmögliche an: den
Bolschewiki wäre es gelungen, den antibürgerlichen Ansturm der
ärmsten Volksschichten in die Bahnen ihres vorrevolutionären
Programms zu lenken. Lassen wir selbst die Frage nach dem
Demokratieverständnis bei einem solchen Verhältnis zum Willen der
Mehrheit der Werktätigen beiseite, den ihre gewählten Vertreter
repräsentierten. Fragen wir lediglich, ob auf diesem Wege der
Bürgerkrieg vermeidbar oder sein Ausmaß begrenzbar gewesen
wäre? Woraus sich sofort eine
weitere Frage ergibt: Ist der
Bürgerkrieg in Russland isoliert vom Weltkrieg zu begreifen, aus dem
auszutreten das arbeitende Volk in Russland in erster Linie gefordert
hatte? Hätten die zivilisierten
Entente-Mächte ein solches Verhalten ihres Verbündeten geduldet? Im Dezember 1917, noch vor Auflösung der
Konstituierenden Versammlung, vor der Nationalisierung des Auslandskapitals
verhandelten bereits die Verbündeten von Nikolai II. und Kerenski über die Aufteilung Russlands in
Einflusssphären, da sie nicht an einen längeren Bestand der
Sowjetmacht glaubten. Außerdem sahen sie sich durch die militärische
und politische Lage dazu gezwungen, Russland noch wenigstens für ein paar Monate im Krieg zu halten,
zumindest an der Wolga oder im Ural, um
bis zum Eintreffen der amerikanischen Truppen in Europa Deutschlands
Kräfte zu binden. Wird daraus etwa nicht klar, dass in einer solchen
Situation der russischen Konterrevolution die Unterstützung in jedem Falle
garantiert war, selbst wenn die Bolschewiki die maßvollsten und
akkuratesten Revolutionäre der Welt gewesen wären?
Was die innere Kräftekonstellation
betrifft, so muss gefragt werden: Wer sonst von den Gegnern der Bolschewiki
verfügte damals über die reale Unterstützung der Mehrheit? Die Menschewiki vielleicht, die Sozialrevolutionäre oder gar die
Konstitutionellen Monarchisten, deren Überlaufen in das Lager der Konterrevolution
man immerhin noch mit dem „Himmelssturm“
und seinen Verlusten in Zusammenhang bringen kann? Aber warum hielten sich dann diese Parteien
nicht einmal in den reichen Regionen des Landes
wie Sibirien oder in der Ukraine an der Macht, wo die mittlere
Bauernschaft zunächst hinter ihnen stand?
Überall wurde ihre Herrschaft schon nach
einigen Monaten durch die von Militärs und Gutsbesitzern gestützten
Regimes beseitigt und von Diktatoren wie Koltschak
und Denikin übernommen, wobei diese Diktatoren
auch prompte Unterstützung seitens der „demokratischen“ Westmächte in einem Ausmaß
erhielten, daß Churchill zu Recht von den Denikin-Leuten
behaupten konnte: „Das ist meine Armee“.
Nur den Bolschewiki gelang es, den Kampf des
Volkes - eben jener Bauern - gegen die weißgardistischen Diktatoren
anzuleiten und zum Sieg zu führen.
So sehen wir, dass der revolutionäre Maximalismus der Massen kein Irrtum war. Der „Sturm des
Himmels“ erwies sich, im Gegenteil, als einzige Weise, das Land aus der
Ausweglosigkeit zu reißen. Die Situation war also nicht absolut
ausweglos, und ein Ausweg aus ihr war gerade dadurch möglich, daß
die Kräfte der Ausgebeuteten und Unterdrückten verzehnfacht wurden,
indem die Widersprüche zwischen ihnen und dem System der Ausbeutung und
Unterdrückung als solchem in den Vordergrund gerückt wurden. Nur in
einer solchen Situation formieren sich Parteien und wachsen Führer heran,
die in der Lage sind, dem „Himmelssturm“ Organisiertheit und Zielbestimmtheit
zu verleihen und eine organische Verbindung mit der revolutionären
Massenbewegung einzugehen.
Ein Revolutionsführer sendet den Massen
keine Offenbarung in der Art gewisser Möchtegern-Propheten oder
-führer. Er erfasst vielmehr feinfühlig den Vektor der Bewegung der
fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft, und alle seine Sinne streben
gerade in diese Richtung, auch wenn es ihm selbst nicht immer klar bewusst sein
sollte.
Er muss nicht wie ein
mittelmäßiger Politiker mit den momentanen Stimmungen und Neigungen
seiner Wählerschaft „rechnen“ und erst recht nicht in ihrem Strom
mitschwimmen. Seine Gedanken bewegen sich in dieselbe Richtung wie die
Massenbewegung der fortschrittlichen Klassen.
Die Behauptung der Unzeitmäßigkeit
der Revolution oder ihrer sozialistischen Wahl wird bei allen drei Varianten im
Namen des Volkes vorgetragen. Es ist
aber ganz offensichtlich, dass sich hinter diesem Anspruch eine
hundertprozentig elitäre Auffassung vom Volk verbirgt. Von allen drei
Standpunkten her erscheint dieses als passives und amorphes Material, in das
sich idealtypische Parteiprogrammatik infiltrieren ließe, oder aber als
Herde, die einem charismatischen Führer hinterher läuft und den Weg
nicht überblickt. Das nun ist leider schon kein einfacher Irrtum mehr,
sondern eine Verabsolutierung der Passivität der Volksmassen, die
tatsächlich in Stabilitätsphasen von Gesellschaften, besonders in
Epochen der Reaktion zu beobachten ist.
In Epochen der Revolution verhält es sich dagegen genau umgekehrt,
und das Leben hat bisher entschieden noch jeden Monopolanspruch von „Eliten“
zurückgewiesen, über Geschichte beliebig verfügen zu wollen.
Volksrevolutionen demonstrieren anschaulich, dass die Geschichte kein Labor
für Experimente von „Helden“ an der
„dumpfen Menge“ ist, sondern eine Arena der Arbeit und des Kampfes von
Millionen. Der sozialistische Kurs des Oktober wurde
eingeschlagen und unterstützt vom Volk, die Revolutionsführer aber
brachten diese Wahl nur deutlich zum Ausdruck und wurden dadurch erst zur
Leitung der Bewegung befähigt.
Der Ausgang der „Schicksalsminuten“ der
Menschheit lässt sich nicht im Voraus berechnen, eben weil hier Massen
dazu aufbrechen, sich in den Verlauf der Geschichte einzumischen. Die
Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit von
Anschauungen und Handlungen in einer solchen Zeit wird davon bestimmt, ob sie
der Erweiterung oder der Verengung des historischen Horizontes der Menschheit dienen.
[1] Lenin, Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, in: Werke (im folgenden LW), Bd. 26, S. 103. „Alle aussteigen“ bei Lenin deutsch.
[2] Lenin, Über das Genossenschaftswesen, LW, Bd.33, S.460
[3] ebd.
[4] Lenin, Lieber weniger, aber besser, LW, Bd. 33, S.487
[5] ebd.
[6] ebd.
[7] Lenin, Lieber weniger, aber besser, LW, Bd. 33, S.488
[8] Lenin, Über unsere Revolution, LW, Bd. 33, S.463
[9] ebd. S.464f.
[10] A.Butenko: Byl li Oktjabr’ njeizbeshen? (War der Oktober unvermeidlich?), in: „Pravda“, 25.10.1990
[11] Lenin, Über unsere Revolution, LW, Bd.33, S.464
[12] Lenin, Brief an die Genossen, LW, Bd. 26, S. 198
[13] Lenin, XI. Parteitag der KPR (B), LW, Bd. 33, S.255