Unzeitgemäß?
(Vorwort der Herausgeberin zur deutschen Ausgabe
der „Logik der Geschichte“ von V.A. Vazjulin,
BoD-Verlag Norderstedt 2011)
Dieses
Buch scheint nicht ganz in unsere Zeit zu passen.
Eine
„Logik der Geschichte“? Eine? Logik? Der
Geschichte?
Geht
es denn nicht gerade in der Geschichte alles andere als „logisch“ zu? Ist nicht
die Auffassung von der einen menschlichen Gesellschaft, die Annahme von einem
einzigen Hauptpfad ihres geschichtlichen Ganges – der womöglich auch noch
in ihre lichte Zukunft führt – , hoffnungslos
antiquiert? Und klingt nicht der Anspruch, „die Logik der Geschichte“
entschlüsselt zu haben, ziemlich vermessen?
Fragwürdig
scheint die Herausgabe dieses Buches auch, wenn man beim Leser bloß auf
historische Nach- oder Rücksicht darauf hoffen würde, dass es aus
einem vergangenen Jahrhundert und einer untergegangenen Welt stammt.
Und
doch sei zunächst ein kleiner Exkurs in seine Entstehungszeit (1)
gestattet, bevor die Frage nach seiner Aktualität (2) zu stellen sein
wird.
1 Exkurs
Zur
Unzeit tauchte die „Logik der Geschichte“ wohl schon damals auf. Seit 1979
hatte ihr Autor, Viktor A. Vazjulin, Jg.1932,
Professor für Philosophie an der Moskauer Lomonossow-Universität,
auf die Publikationsfreigabe warten müssen, bevor es neun Jahre
später zu einer ersten Veröffentlichung kam.
Man
werfe einmal einen Blick in das Inhaltsverzeichnis, blättere ein wenig
durch die Seiten und versetze sich in die Lage eines verantwortlichen
Wahrheitshüters, eines bestallten Ideologen der Breshnew-Ära:
Würde man hierin subversives Gedankenmaterial oder gar
umstürzlerische politische Absichten auch nur wittern können? Was musste im Text selbst verborgen sein, der
äußerlich ja eher die Gestalt gewöhnlich langweiliger
Lehrbücher zum Historischen Materialismus besaß und eine willkommene
Bestätigung für die historische Notwendigkeit des Kommunismus bot?
Einem
damaligen sowjetischen Parteibeamten dürfte es kaum gelungen sein, den
wirklichen wissenschaftlichen Neuwert der vorliegenden Untersuchung zu erfassen.
Vielleicht hatte er lediglich klassenkämpferische Bezüge oder neueste
Parteitags-Zitate vermisst, vielleicht hatte allein die Formulierung des Autors
von der notwendigen „Aufhebung des Marxismus“ zu einer reflexartigen
Fehldeutung und Abwehrhaltung geführt. Wie auch immer, es war wohl nicht
üblich einen Publikationsstop auch noch zu
begründen.
Auf
jeden Fall zeugt dieser Umstand selbst von einer erneut sich verengenden
geistigen Atmosphäre jener 1970er Jahre in der Sowjetunion. Echte
Repressalien gab es damals nicht mehr. Um die Verbreitung irgendeiner – nicht
unbedingt durchschauten – Abweichung von der kanonisierten Lehre aufzuhalten,
hielt man es offenbar für ausreichend, hier und da die Verteidigung einer
Dissertation, die Lehrtätigkeit, die Publikationsmöglichkeiten einer
für suspekt gehaltenen Person zu behindern. Dabei waltete durchaus eine gewisse
Beliebigkeit: Ihr verdankte es sich immerhin, dass wir, als
Philosophiestudenten aus der DDR an verschiedene Universitäten des
Bruderlandes delegiert, in jenem Jahrzehnt dennoch solchen kreativen und
unorthodoxen Denkern wie Iljenkow[1]
und seinen Anhängern in Rostow[2]
oder eben Vazjulin in Moskau leibhaftig in
Vorlesungen und bei der Lektüre in Bibliotheken begegnen konnten. Einer gewissen, aber oft willkürlichen
Lockerung verdankte es sich wohl auch, dass vor allem in der
philosophiehistorischen Forschung und Ausbildung an den vielen weitläufig
im Land verteilten Philosophielehrstühlen eine gewisse Pluralität des
Denkens, gewisse schulbildende Ansätze zur Entfaltung kamen – allerdings
stets misstrauisch beäugt und notfalls administrativ beschränkt.[3]
In
einer solchen Situation also wurde die Publikation der „Logik der Geschichte“
zunächst auf Eis gelegt.
Vor
welchem Hintergrund aber ist sie verfasst worden? Welchen persönlichen Entwicklungsprozess
hatte der Autor zuvor selbst zurückgelegt?
Vazjulin
hatte, obwohl von seinen Anlagen und Interessen her ebenso sehr den
Naturwissenschaften zugeneigt, von 1950 bis 1955 Philosophie studiert. In
Interviews und Vorträgen[4]
beschreibt er im Rückblick seine persönliche Krise, in die er geraten
war, als er sich des apriorischen und leeren Charakters der gängigen
Lehrbücher und Vorlesungspraktiken seiner damaligen Hochschullehrer (z.B. Oiserman, Asmus, Trachtenberg) bewusst wurde. In nackter
empiristischer Manier wurde damals die Geschichte der Philosophie lediglich
nacherzählt, wobei offen blieb, wozu diese überhaupt – über ein
selbstbezügliches Gedankenspiel hinaus – von Nutzen sein konnte. Die propagandistische
Machart vieler zeitgenössischer Arbeiten sowjetischer Marxisten
stieß ihn ab. Weder die marxistische Literatur der 1920er/30er Jahre,
noch die Übersetzung der Marxschen „Grundrisse“ waren übrigens damals
allgemein zugänglich.
Erst
die Bekanntschaft mit der Dissertation von Iljenkow
und ein gemeinsam mit Lektorski und Batistschew
besuchtes Spezialseminar bei Iljenkow, das dieser als
Doktorand an der Moskauer Universität leitete, hatten Vazjulin
davon überzeugen können, dass es sich beim Marxismus um lebendiges und
wissenschaftliches Denken über reale Probleme handeln könnte. Iljenkow habe ihn dazu inspiriert, erstmals das „Kapital“
und alle anderen verfügbaren Marxschen Arbeiten im Detail zu studieren.
Dadurch aber wurde sein Interesse an der Erforschung der zur Kritik der
Politischen Ökonomie entwickelten Denkmethode von Marx und an
wissenschaftstheoretischen Fragestellungen überhaupt nachhaltig geweckt.
Glücklicherweise
begann sich gerade nach 1956 das politische Klima für die
philosophisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit Problemen
nichtpropagandistischen Charakters
günstiger zu gestalten. Und in diesem kurzen Zeitfenster schien es
plötzlich möglich, sich auch Marx selbst mit unverstelltem, womöglich
kritischem Blick zu nähern und bisher für sakrosankt gehaltene
Setzungen nach ihrem Entstehungsprozess und ihren erst noch aufzudeckenden
Implikationen zu befragen.
Nun
wäre es jedoch ein Trugschluss anzunehmen, dass dieser neue, zumindest von
Vazjulin seitdem mit beeindruckender Konsequenz
verfolgte Umgang mit dem Marxschen Erbe, auf den noch näher
zurückzukommen sein wird, ein seit dem „Tauwetter“ allgemein herrschender
Trend sowjetischer Philosophienentwicklung gewesen sei. Vielmehr hatte die im
Zuge der Chrustschowschen Kritik am Personenkult
entstandene Liberalisierung bei vielen Zeitgenossen zum gründlichen
Verlust all ihrer Ideale, zur Auflösung früherer Überzeugungen
geführt. Ein nihilistisches Verhältnis zur Wirklichkeit und zur
marxistischen Theorie verbreitete sich rasch besonders in Intellektuellenkreisen.
Diese von Vazjulin vorgenommene
Einschätzung wird durch einen erst
unlängst veröffentlichten Brief von Iljenkow
an das ZK der KPdSU bestätigt, der gegen Ende der 1960er Jahre verfasst
worden sein muss.[5]
Darin kritisiert der damals inzwischen weit über Moskau hinaus bekannte
und beliebte Philosoph die Situation in der sowjetischen Philosophie auf
scharfe und bittere Weise, indem er konstatiert: Ihr Einfluss auf die
kommunistische Umgestaltung der Welt und auf die Entwicklung der Gesellschafts-
und Naturwissenschaften strebe praktisch gegen Null, es fehle überhaupt an
einem Verständnis des Gegenstandes der Philosophie und ihrer Rolle in der
wissenschaftlichen Arbeitsteilung und für politische Praxis. Während
sich in den Naturwissenschaften Neopositivismus und formale Logik, in den
Geisteswissenschaften aber „anthropologisch-existenzialistische Konstrukte“
tummelten, während sich 95% der Aufsätze im oberflächlichen,
dilettantischen Räsonieren über philosophische oder methodologische
Probleme der verschiedenartigsten einzelwissenschaftlichen Disziplinen (oder
auch des „Melonenhandels in Großstädten“) erschöpften, habe
sich eine wirklich materialistische Dialektik aus der politischen
Ökonomie, von der alles Wesentliche abhänge, vollends
verflüchtigt. Naivität und Unkenntnis in Bezug auf Marx’ Denkmethode
seien typisch geworden. Die Dialektik in Anknüpfung an die entsprechenden
philosophischen Traditionen als Logik und Erkenntnistheorie des modernen
Materialismus zu entwickeln, sei ein uneingelöstes Leninsches
Vermächtnis geblieben, stattdessen werde sie – paradoxerweise gerade von
Vertretern des dialektischen Materialismus – als „antiquarische Hegelei“ und Mystik verlacht.
Dafür,
dass sich die Situation in dem darauf folgenden Jahrzehnt[6]
grundsätzlich verändert hätte, gibt es kaum Indizien.
Vor
diesem Hintergrund erst wird besser verständlich, warum der von Vazjulin eingeschlagene Weg – in der von Iljenkow gerade vermissten und eingeforderten Richtung –
eher ungewöhnlich war und vom Mainstream abwich.
Schon
während seiner Diplomarbeit hatte Vazjulin die
Untersuchung der dialektischen Denkweise von Marx mit besonderer
Intensität und Vehemenz vorangetrieben. Vor allem muss es ihn gereizt
haben, Lenins Kritik auf den Grund zu gehen, der zufolge ein halbes Jahrhundert
nach Marx kein Marxist das „Kapital“ verstanden habe, weil dies unmöglich
sei, ohne die ganze Logik Hegels begriffen zu haben. Die „Wissenschaft der
Logik“ und alle anderen relevanten Hegel-Werke studierte er nun parallel zu
Marx zu großen Teilen auch in der Originalsprache im Detail.
Anknüpfend an die wenigen ihm verfügbaren gehaltvollen Arbeiten zu
Problemen der Marxschen Dialektik, die aber hauptsächlich auf das
Methoden-Kapitel in den „Grundrissen“ von Marx und die dialektische Darstellungsweise
von „Ware und Geld“ im ersten „Kapital“-Band beschränkt blieben[7],
gelangte er zu einer Reihe eigenständiger, von Iljenkows
Ansatz abweichender Resultate. Diese können in seinen beiden
Dissertationen, einem darum sich rankenden Artikelzyklus, der zwischen 1962 und
1971 entstand, sowie in ausgereifter Form in seiner Monographie „Die Logik des
‚Kapitals’ von Karl Marx“ von 1968 nachvollzogen werden.[8]
Sein
Ansatz zeichnet sich von Beginn an dadurch aus, dass er erstens, – im Unterschied zu einigen westlichen Marx-Forschern und
zu der tatsächlich damals im Osten vorherrschenden Manier der Marx-Exegese
– die Entwicklung der Auffassungen
von Marx und Engels in ganzer Breite
und in ihrer gesellschaftspraktischen Bedingtheit wie auch
philosophiehistorischen Eigenart zu erfassen versucht.[9]
Zweitens konzipiert er die
Untersuchung der dialektischen Methode bei Marx zugleich als allgemeiner zu
fassendes Problem von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und
moderner Wissenschaftsentwicklung, darin eingeschlossen das philosophische
Problem von Phylo- und Ontogenese menschlicher
Erkenntnis.[10]
Und drittens begreift er die zentrale
Bedeutung bewusst-dialektischen Denkens nicht nur für die Kritik der
bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch für den erst noch zu
meisternden Übergang zu einem neuen Entwicklungstyp von Gesellschaft in
welthistorischer Dimension und stellt es daher in den Mittelpunkt seiner
Forschungen. Dass er damit, viertens,
auch einen produktiven Beitrag zur langjährigen Debatte über den
systematischen Kategorienaufbau des historischen Materialismus geleistet hatte,
blieb ebenfalls relativ unbeachtet.[11]
Seine Bemühungen mündeten schließlich in seine Monographie zur
„Logik der Geschichte“.
1988 konnte diese Arbeit endlich erscheinen, weil die Perestrojka-Signale auch den ängstlichsten Verlagsfunktionären Courage zuwachsen ließen.
Doch fiel das Buch nicht schon wieder gänzlich aus der Zeit? Inzwischen scherten sich doch viele potentielle Leser längst um eine ganz andere Lektüre: Wen interessierte jetzt noch im gerade eröffneten (Waren-)„Haus Europa“ ein – wenn auch unorthodoxer – marxistischer Versuch, Weltgeschichte dialektisch zu denken, wenn einem gerade postmodern-spektakulär das Post-Histoire verheißen wurde!
Als nunmehr ganz real die Weltgeschichte herein-, der frühsozialistische Vielvölkerstaat zusammen- und die vertraute Alltagssicherheit wegbrach, schien auch die Zeit endgültig zu Grabe getragen, in der man in unserer Studienstadt Moskau immerhin noch über Kosmos, Kommunismus und Alternativen künftiger Gesellschaftsentwicklung philosophieren konnte, ohne ausgelacht zu werden. Vermutlich in Kilometern zu messen war der marxistisch-leninistische Bücherbestand, dessen sich die Bibliotheken vieler wissenschaftlicher Institutionen nun entledigten – er wurde nicht nur symbolisch auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.
Nicht ganz so leicht (wie parallel auch im östlichen Deutschland) zu entsorgen waren damals diejenigen Personen, die marxistisches Denken bisher voranzutreiben versucht hatten, auch wenn ihre Zahl rasch zusammenschrumpfte.[12] So hielt auch Professor Vazjulin an der Moskauer Universität weiterhin und über seine Pensionierung hinaus Vorlesungen, betreute Diplomanden und Doktoranden, schrieb Artikel und trat mit Referaten und Diskussionsbeiträgen an die Öffentlichkeit.[13]
Inspiriert von seiner Konzeption erarbeiteten Jelena und Alexander Charlamenko eine neue, auf das Verständnis der Herausbildung von Weltgeschichte zielende Konzeption für den Geschichtsunterricht an Schulen, eingeschlossen ein Lehrbuch und eine Aufsatzserie dazu, verfassten eine Studie zu „Revolution und Konterrevolution in Russland“ und zahlreiche Artikel über historische und aktuelle Entwicklungen insbesondere in Lateinamerika und Russland.[14]
Andere ehemalige Studenten, Doktoranden und Anhänger des Autors organisierten Konferenzen und Diskussionskreise und verstehen sich und diesen Diskussionsverbund inzwischen als „Internationale Schule der Logik der Geschichte“[15]. Sie bemühen sich mit Erfolg um eine russische Zweitauflage der „Logik der Geschichte“, die 2005 erschien, nachdem sie bereits seit 2004 in griechischer Sprache eine gewisse Verbreitung fand und seitdem in Vorlesungen und Seminaren an verschiedenen Universitäten Griechenlands Thema ist.[16] Eine solche Resonanz wäre dem Buch nun auch im deutschsprachigen Raum zu wünschen.
2 Zur
Aktualität
Welche aktuelle Anziehungskraft besitzt nun dieses inzwischen so betagte Werk? Welches zeitgemäße Motiv gibt es im Jahre 2010 für den Versuch, auch deutschsprachige Leser dafür interessieren zu wollen – über die Würdigung der Lebensleistung dieses Denkers hinaus, der als Hochschullehrer die philosophische Bildung und Biographie vieler junger Leute nachhaltig geprägt hat?
So paradox es klingt, liegt ein reizvolles Motiv genau im „Unzeitgemäßen“ seines Konzepts von Gesellschaft und Geschichte, jedenfalls in dem Sinne, dass es davon absieht, sich äußerlich an den Zeitgeist und dessen soziologische oder geschichtstheoretische Paradigmen anzupassen, sondern vielmehr darauf besteht, grundlagentheoretische Probleme in einer für diese angemessenen Begriffssprache, Gedankenabfolge und Abstraktionsebene zu begründen und zu entfalten.
Hier wird nicht einfach über notwendige Begriffsdialektik reflektiert, sondern eine solche immanent vor- und durchgeführt.
Das bringt, so sei vorab gewarnt, hinsichtlich des Aufbaus der Arbeit eine grundlegende Schwierigkeit für den Leser mit sich, der er sich bei der Lektüre jeder bewusst dialektisch vorgenommenen Darstellung eines Gegenstandes stellen muss: Begriffe werden hier in ihren wechselseitigen Beziehungen, im Rahmen eines erst schrittweise entfalteten Kategoriensystems entwickelt und nicht als fixe definiert.[17] Ihre Wahrheit ist „nicht eine ausgeprägte Münze (...), die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann.“[18] Selektives Lesen einzelner Abschnitte zu einzelnen Kategorien, das Blättern nur nach bestimmten Schlagwörtern oder die Erwartungshaltung, auf jeder Seite für sich genommen „neues Wissen“ erlangen zu können, werden kaum befriedigend verlaufen können wenn nicht gar völlig in die Irre führen.
Zu erwarten sind auch keine empirischen Zustandsbeschreibungen konkreter Gesellschaften in Geschichte oder Gegenwart und keine Rezepte für aktuelles politisches Handeln.
Vazjulins theoriegeleitetes Nachdenken über das „Ganze“ von Gesellschaft und Geschichte ist von einer philosophischen Art, die die Notwendigkeit von empirischen Analysen des unendlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Materials weder ignoriert noch für überflüssig hält. Vielmehr sind diese nur durch einen unabschließbaren Prozess vielfältigster einzelwissenschaftlicher Untersuchungen zu leisten. Sie sind aber nicht Gegenstand seiner Arbeit, sondern deren Voraussetzung und Ausgangsbasis – innerhalb der historischen Schranken, die einem individuellen Leben gesetzt sind. Der Autor sieht in ihnen die absolut unumgängliche Etappe eines zunächst überwiegend analytischen Übergangs „von der chaotischen Vorstellung des Ganzen“ zu immer einfacheren, abstrakteren Bestimmungen und überschätzt, im Unterschied zu Marx, die darauf aufbauende Zusammenfassung dieser Abstrakta zu einer Gedankentotalität (also das überwiegend synthetische Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten) nicht als die „einzig wissenschaftliche Methode“.[19] Im vorliegenden Buch geht es jedoch gerade um einen solchen Synthese-Versuch, um die dafür nötige theoretische Grundlegung.
Ist etwa eine Theorie nicht grundlagentheoretisch zeitgemäß – also den global existenziell gewordenen Herausforderungen unserer Zeit, unserer Epoche gemäß – , die sich nicht im positivistischen Faktensammeln über Geschichte und Gegenwart, nicht im Beschreiben sozialer Phänomene erschöpft, nicht lediglich auf social engineering oder auf „Minimierung von Leid durch Politik“ zielt, die auch nicht nur in kritischer Absicht oder aus moralischer Empörung „eine andere Welt für möglich hält“ oder wenigstens für wünschenswert, sondern sich als Theorie begreift, welche Möglichkeit und Notwendigkeit eines neuen Entwicklungstyps der zur Weltgesellschaft heranreifenden Menschheit theoretisch nachzuweisen versucht?
Vazjulins „Logik der Geschichte“ kann als ein Beitrag dazu verstanden werden,
1. einen komplexen, nicht metaphysischen Begriff von Gesellschaft zu konzipieren, dem Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit inhärent sind, indem Gesellschaft als sich entfaltender Zusammenhang zwischen Natürlichem und Sozialem untersucht wird (was mit Blick auf gängige soziologische Modelle keineswegs selbstverständlich ist).
Genau auf diesem Wege sucht der Autor
2. einen komplexen, nicht teleologisch verbrämten Begriff von Geschichte zu gewinnen, der diese als stufenweise, aber nicht linear aus der praktischen Auseinandersetzung mit der Natur hervorgehende Entwicklungsgeschichte der Menschheit zur Weltgeschichte auffasst (was mit Blick auf gängige Denkmuster von Geschichtstheorien oder Geschichtsmethodologien keineswegs selbstverständlich ist).
Zu 1.
Die Gesellschaft wird von Vazjulin als sich entwickelnde „organische Totalität“, als ein sich entwickelndes „organisches Ganzes“ von Verhältnissen der Individuen zur Natur, zueinander und zu sich selbst aufgefasst und untersucht. Der Begriff des „organischen Ganzen“ ist hier weder organizistisch-biologistisch gedacht, noch impliziert er, wie es einst Poppers Verdikt suggerierte, eine theoretische Begründung totalitärer politischer Systeme. Die Notwendigkeit, „Totalität“ zu denken, wird auch nicht nur, wie bei Adorno, als eine unerlässliche Bedingung für die Kritik der durch das kapitalistische Tauschprinzip total beherrschten bürgerlichen Gesellschaft und damit ausschließlich in Verschränkung mit dieser Kritik zulässig angesehen. Vazjulin knüpft dagegen an Marx’ dialektische Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft als eines konkreten, historisch gewordenen organischen Systems an, dessen „Entwicklung zur Totalität (...) eben (darin besteht), alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen“,[20] und er geht darin zugleich über Marx hinaus.
Angeknüpft wird in erster Linie an die Methode, die Struktur einer Gesellschaft nicht statisch, als einen „festen Kristall“, sondern als Struktur von innerlich zusammenhängenden Prozessen, als Struktur eines „umwandlungsfähigen und beständig im Prozess der Umwandlung begriffenen Organismus“ zu erforschen.[21] Die Struktur eines komplexen Gegenstandes mit Prozesscharakter, seine „verschiedenen Entwicklungsformen“, „deren inneres Band“ und sein „Bewegungsgesetz“ selbst müssen zunächst im Detail erforscht worden sein, bevor dessen „wirkliche Bewegung“ in einer bestimmten Abfolge von Kategorien dargestellt werden kann. „Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.“[22]
Marx hatte dies für seinen Gegenstand, „die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse“ [23] – in gründlicher Umarbeitung der Hegelschen Dialektik – geleistet. Vazjulin war es gelungen, durch seine Analyse der Logik des „Kapitals“ eben diese, in Auseinandersetzung mit Hegel gewonnene, dialektisch-logische Begriffsstruktur aus dem politökonomischen Gedankengang von Marx zur Reproduktion der reifen Totalität der Kapitalverhältnisse herauszuschälen und sichtbar zu machen,[24] was manchem deutschen Rezensenten wie eine überflüssige Begriffs-Verdoppelung vorgekommen war.[25] Dabei hatte er aber ein viel differenzierteres Verständnis der Funktionsweise der Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten und des Verhältnisses von logischer und historischer Untersuchung erarbeiten können, als es bis dahin unter Marxisten üblich war: So erkannte er frühzeitig, um nur eines seiner Resultate zu nennen, dass es sich im Abschnitt „Ware und Geld“ nicht bereits um die Darstellung von Wesensverhältnissen handelt, sondern um die gedankliche Fixierung des Seins, der Oberfläche des Gegenstandes, und damit, in aufgehobener Form, nicht um die historischen Entstehungsbedingungen des Kapitals, sondern um seine kontemporären Existenzvoraussetzungen, die stets aufs Neue zu reproduzieren sind.[26] Er hatte im Aufbau des Kategoriensystems von Marx eine dreifach gewundene Spiralform entdeckt, die es im Unterschied zu Hegel ermöglicht, nicht nur die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und Zukunft des Gegenstandes in deren relativ selbständiger Existenz innerhalb der Gegenwart, d.h. aber auch dessen historische Bedingtheit, Vergänglichkeit und Endlichkeit überhaupt immanent zu erfassen.
Durch das Aufspüren der mannigfaltigen im Verlaufe der gesamten Geschichte der Philosophie erarbeiteten dialektischen Begriffe und ihrer Zusammenhangsarten in der Marxschen Analyse der Kapitalverhältnisse trat der Reichtum an Erkenntnismitteln zutage, der erforderlich und möglich ist, um in den Gesellschaftswissenschaften nicht in vorkantische, mechanizistische Erklärungsmuster monokausalen oder – in moderner Abwandlung –
multikausalen Typs zurückzufallen, um nicht die Aufdeckung objektiver Entwicklungswidersprüche durch Sprachspielanalysen zu ersetzen, um nicht gesellschaftliche Funktionssysteme allein durch „binär codierte Leitdifferenzen“ zu erklären.
Was man von der logischen, spiralförmigen Darstellungsmethode des „Kapitals“ lernen konnte, war jedenfalls mehr als die theoretische Kritik dieser einen geschichtlich vorübergehenden Entwicklungsstufe. Sie barg offenbar enormes heuristisches Potential auch für die Erforschung der Struktur der Gesellschaft überhaupt.
Was aber soll „die Gesellschaft überhaupt“ sein? Gibt es nicht immer nur bestimmte, konkrete, einzelne Gesellschaften im Plural?
Eine Gesellschaft überhaupt („die ihrem Begriff entspricht“ und damit als „organische Totalität“ untersucht werden kann) kann jedenfalls nicht durch Suche nach dem Abstrakt-Allgemeinen, dem allen konkreten menschlichen Gesellschaften Gemeinsamen erfasst werden.[27] Sie lässt sich auch nicht als bloße Summe oder als Konglomerat von in der Moderne ausgeprägten, nebeneinander existierenden gesellschaftlichen Subsystemen verstehen.
In Vazjulins Verständnis geht es vielmehr um „eine Gesellschaft, in der die Umwandlung der naturwüchsigen Beziehungen zum Abschluss gekommen und die ungeteilte Herrschaft spezifisch menschlicher Verhältnisse zur Durchsetzung gelangt ist“ – um eine reife menschliche Gesellschaft oder eine assoziierte Menschheit auf ihrer reifen Entwicklungsstufe. Als „organisches Ganzes“ kann sie also erst begriffen werden als gewordenes Resultat der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte, als reife Gesellschaft, die in den Jahrtausenden ihres Werdens ihre geschichtliche Voraussetzung, nämlich ihre natürliche Existenzgrundlage umgewälzt und dabei gelernt hat, sie in wesentlich verwandelter Form als Moment ihres eigenen Entwicklungsprozesses zu reproduzieren. Solange demzufolge die Menschheit in verschiedene Staatsgesellschaften, sich bekämpfende Großmachtgruppierungen oder atomisierte Individuen gespalten ist, kann sie nicht als assoziiert, nicht als reif gelten, handelt es sich nicht ungeteilt und umfassend um spezifisch menschliche Verhältnisse.
Eine reife Gesellschaft theoretisch zu antizipieren sei nun, so meint der Autor, 100 Jahre nach Marx und in Verarbeitung der ersten Erfahrungen einer frühsozialistischen Entwicklung nicht mehr unmöglich.[28] Die komplexe Logik, d.h. das innere Band einer reifen Gesellschaft könne eben mit Hilfe der dialektischen Methode, über die kategoriale Gliederung der Darstellung in die Sphären des Seins, des Wesens, der Erscheinung und Wirklichkeit erfasst und folglich als „organische Totalität“ von Verhältnissen rekonstruiert werden. Allerdings kann dazu nicht einfach der Gehalt und der bestimmte Zusammenhang solcher konkreteren – in der Tradition des historischen Materialismus oft durchweg bedenkenlos verallgemeinerten – Begriffe wie Arbeit, Produktion, Produktivkräfte usw. von Marx übernommen werden, ohne damit unbewusst die Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur als einer menschheitshistorisch unreifen Entwicklungsstufe auf eine künftige reife oder auf vergangene Stadien zu extrapolieren. (Man erinnere sich an Marx’ eigene Einschränkungen bezüglich des Begriffs der Arbeit.[29])
Nicht nur, aber auch mit der Frage nach dem einfachsten Verhältnis der Gesellschaft (ihrem Sein im Unterschied zu ihrem Wesen, zu ihrer Erscheinung und Wirklichkeit) und der damit zusammenhängenden systematischen Einbeziehung des Verhältnisses der Menschen zur Natur in die Erforschung gesellschaftlicher Entwicklung sowie mit der theoretischen Entfaltung dieses Verhältnisses hat Vazjulin zugleich die Voraussetzung für einen neuen, gegenüber Marx anders akzentuierten Blick sowohl auf die Gesellschaftsstruktur, als auch auf den Verlauf der Menschheitsgeschichte ermöglicht, der über die Erkenntnisse des Marxschen Konzepts von den ökonomischen Gesellschaftsformationen hinausgeht.
Zu 2.
Lässt sich eine „Geschichte im Singular“ lediglich oder ausschließlich, wie z. B. von W. Mommsen noch zugestanden, als „regulative Idee“ denken?[30]
Vazjulin verneint diese Auffassung. Seiner Ansicht nach beinhaltet die Geschichte der menschlichen Gesellschaft aber auch mehr und anderes als eine Vielzahl gesellschaftlicher Vorgänge oder eine Vielzahl von verschiedenartigen Gesellschaften mit ihren eigenen Geschichten.
Aus dem „Rückblick“ der analysierten Anatomie einer reifen Gesellschaft im oben umrissenen Sinne wird vielmehr die Entwicklungsgeschichte der Menschheit als naturgeschichtlicher Prozess verstehbar und theoretisch rekonstruierbar, dessen Stufen zugleich Stadien der Genese von notwendigen, inneren Zusammenhängen zwischen den vielschichtigen Verhältnissen der gesellschaftlichen Reproduktion menschlicher Individuen in Auseinandersetzung mit der Natur bilden. Das auch von Marx verwendete Attribut „naturgeschichtlich“ meint nicht „der Naturgeschichte zugehörig“. Vielmehr bedeutet es das „noch naturhafte – schon geschichtliche“ Bedingungsgefüge menschlichen Handelns und charakterisiert damit einen Übergangsprozess, nämlich das allmähliche Hervorgehen, Heraustreten der typisch menschlich-gesellschaftlichen Entwicklung aus der Natur, die allmähliche Herausbildung eigener, sozialer Gesetzmäßigkeiten, die weder von einzelnen Menschen einer bestimmten Gesellschaft noch von Teilgruppen oder von allen Menschen zusammen beabsichtigt, geplant oder zielbewusst herbeigeführt worden ist. Die Schwierigkeit beim Verstehen dieses, keinerlei Teleologie enthaltenden Ansatzes liegt offenbar immer wieder darin, dass ein derartiger ungeplanter, durch keinerlei göttlichen, natürlichen oder menschlichen Zweck vorbestimmter, sein Ende nicht schon im Keim enthaltender Prozess in seinem Ablauf dennoch stufenweise eine notwendige Richtung auszuprägen beginnt und damit zur „Entwicklung“ wird. Diese notwendig werdende Richtung allein ist es, die Vazjulin mit dem Begriff der „Logik der Geschichte“ zu erfassen sucht und deren Stadien er untersucht.
(Wenn er, um ein Beispiel anzudeuten, in Anknüpfung an das Formationskonzept den Begriff der „Sklavenhaltergesellschaft“ theoretisch entfaltet, geht es ihm nicht darum, das
antike Griechenland und Rom in eurozentrischer Verblendung zum Muster einer solchen Gesellschaft zu erheben und unzulässig zu verallgemeinern. Zur unausweichlichen Stufe im Prozess der Herauslösung der Menschheit aus der Natur wurde die Formierungsetappe „Sklavenhaltergesellschaft“ nicht einmal deswegen, weil hier die Sklavenarbeit die vorherrschende gewesen wäre – was nicht der Fall war – , sondern vielmehr deswegen, weil die Dominanz des Privateigentums an den Produzenten logisch und historisch der Dominanz des Privateigentums an Grund und Boden vorausgehen musste, was im Buch ausführlicher begründet wird.)
Das Notwendige, Gesetzmäßige des historischen Prozesses in diesem Sinne hat hier nichts mit einer mechanizistisch aufgefassten Naturgesetzlichkeit oder Kausalität gemein, es ist weder bereits im Keim angelegt noch das ewig gleich Bleibende, sich Wiederholende im Wandel der Erscheinungen. Es entfaltet sich – inmitten einer Vielzahl von Möglichkeiten in Gestalt von sich letztendlich durchsetzenden Entwicklungstendenzen, inneren Strukturzusammenhängen dieser Entwicklung – erst im Prozess der Auseinandersetzung der Menschen mit den natürlichen bzw. geschichtlich modifizierten Verhältnissen, „die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert “ werden und die „ihre eignen Lebensbedingungen vorschreiben“, zugleich aber von ihr verändert werden.[31]
Der hier entwickelte Ansatz bleibt also nicht dabei stehen, nur allgemein den bloßen, ewigen „sozialen Wandel“, die verschiedensten Veränderungen im Zusammenleben verschiedenster Menschengruppen zu konstatieren, noch versucht er ein Abstrakt-Allgemeines, ein durch äußerliche Vergleichung gewonnenes Gemeinsames der vielfältigsten historisch vorgefundenen Geschichten einzelner Gesellschaften zwecks besserer Übersichtlichkeit in ein schlichtes chronologisches Ordnungs- oder ideologisch motiviertes Fortschrittsschema zu pressen.
Er geht vielmehr den langwelligen, spiralförmig sich formierenden Verkettungen und Verknüpfungen der Resultate geschichtlichen Handelns der Menschen nach und versucht diese mit dem aus der „Kapital“-Logik gewonnenen und überarbeiteten Begriffsrepertoire in ihren entscheidenden Etappen zu erfassen.
Das Studium der Anatomie der reifen Totalität des Kapitals hatte auch den Schlüssel für die tatsächlich historische Unterscheidung verschiedener Entwicklungsstufen seines Gegenstandes geliefert, ohne dass diese damals von Marx schon bewältigt werden konnte. Vazjulin erkennt, dass eine wissenschaftliche historische Methode sich nicht darauf reduzieren darf, entweder nur eine Beschreibung geschichtlicher Phänomene zu leisten oder aber eine logische Betrachtung lediglich zu illustrieren (was die bekannte Äußerung von F. Engels nahelegte[32]). Sie besitzt dann einen eigenständigen Wert, wenn es gelingt, einen Gegenstand als einheitlichen historischen Prozess zu rekonstruieren, der sich über die Ablösung verschiedener wesentlicher historischer Formen vollzieht, die seine verschiedenen Stadien darstellen und jeweils eigene historische Gesetzmäßigkeiten aufweisen. Das sei etwas anderes, als nur über die verschiedenen Formationen zu reden und beispielsweise überall denselben abstrakt-allgemeinen Begriff von „Produktionsverhältnissen“ zugrunde zu legen, wie es seinerzeit in formationstheoretischen Darstellungen durchaus verbreitet war, ohne seinen stadial veränderlichen, konkret-allgemeinen Gehalt aufdecken zu können.
Der Kommunismus, derzeitig kein Gespenst, das in Europa umgeht, sondern eher eines, das sich vorläufig, nach erstem frühsozialistischen Anlauf, „in der Morgendämmerung verflüchtigt hat“,[33] kann Vazjulin zufolge nicht anders begriffen werden als eine durch die bisherige geschichtliche Entwicklung hervorgerufene Möglichkeit eines neuen Entwicklungstyps der Gesellschaft, der aber im Unterschied zu allen vorangegangenen Stufen – also zur unreifen „Vorgeschichte“ der Menschheit – nur als bewusste, rein geschichtliche Tat verwirklicht werden kann und aufgrund der globalen Dimension der Umwälzung einen viel längeren Zeitraum mit vielen neuen Anläufen beanspruchen wird. Der infolge der bisherigen „Logik der Geschichte“ eben nicht mehr „naturgeschichtlich“ eintretende und daher nur abzuwartende, sondern nur noch bewusst zu gestaltende Übergang zu dieser neuen Entwicklungsstufe stellt nicht nur eine Bedingung dafür dar, die drohende militärische oder ökologische Selbstausrottung der Menschheit abzuwenden, sondern letztlich die Herrschaft von spezifisch menschlichen Verhältnissen, nämlich Verhältnissen von universell entwickelten Individuen als Persönlichkeiten herbeizuführen – als Beginn einer neuen Spiralwindung gesellschaftlicher Entwicklung – im beginnenden kosmischen Zeitalter.
Marx hatte seinerzeit, an die Adresse der Physiokraten gerichtet, formuliert:
„Sie behandeln das Problem in komplizierter Form, bevor sie es in seiner elementarischen Form gelöst hatten, wie der geschichtliche Gang aller Wissenschaften durch eine Masse Kreuz- und Querzüge erst zu ihren wirklichen Ausgangspunkten führt. Im Unterschied zu anderen Baumeistern zeichnet die Wissenschaft nicht nur Luftschlösser, sondern führt einzelne wohnliche Stockwerke des Gebäudes auf, bevor sie seinen Grundstein legt“.[34] Vielleicht hatte Vazjulin wie kaum jemand anders frühzeitig begriffen, dass die „Grundsteinlegung“ einer bewusst-dialektischen Wissenschaft von der Gesellschaft und ihrer Geschichte durch Marx und Engels gerade erst ihren Anfang genommen hatte und daher auch noch in den Fundamenten auszuführen und fortzusetzen war, wollte man mit ihr in den anschließenden Jahrhunderten wirklich „eingreifendes Denken“ praktizieren und in praktische Weltveränderung umsetzen.
Gudrun Havemann
[1] Ewald W. Iljenkow (1924 – 1979) ist einer der wenigen auch international wahrgenommenen marxistischen Philosophen der UdSSR. Seine Arbeit „Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten im ‚Kapital’ von Karl Marx“, ausgewählte Aufsätze zur „Dialektik des Ideellen“ u. a. Artikel liegen auch in deutscher Sprache vor. Vgl. auch Vesa Oittinen (ed): Evald Ilyenkov’s Philosophy Revisited. Helsinki 2000; David Bakhurst: Consciousness and Revolution in Soviet Philosophy. From the Bolsheviks to Evald Ilyenkov. Cambridge 1991.
[2] Einige von Iljenkows
Anhängern gaben an der Rostower Universität eine Zeit lang den
philosophischen Ton an, wie z.B. A. V. Potemkin, A. Novochat’ko
oder T. P. Matjaš.
[3] Zu neueren
Versuchen einer Aufarbeitung der Philosophiegeschichte der Sowjetperiode vgl.
David Bakhurst, a.a.O.; Evert van der Zweerde, Evald Ilyenkov and Soviet Philosophical Culture, in:
Vesa Oittinen a.a.O., S. 55
– 77
[4]Vgl. Interview mit V. A. Vazjulin, in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z., Nr. 14/1993 und Konferenzbeiträge im Anhang
[5] Vgl. Brief des
Philosophen Iljenkow an das ZK der KPdSU, in:
Marxistische Blätter, 1/2006
[6] An dessen Ende war Iljenkow verzweifelt aus dem Leben geschieden.
[7] Vgl. auch L. A. Mankovskij, Logičeskie kategorii v „Kapitale“ Marksa, Moskva 1962, E. V. Il’enkov, Dialektika abstraktnogo i konkretnogo v „Kapitale“ Marksa, Moskva 1960
[8] Das Thema der
Dissertation, mit der er 1962 zum „Kandidaten der philosophischen Wissenschaften“
promoviert wird, lautet: „Die Entwicklung des Problems von Historischem und
Logischem in den Arbeiten von K. Marx und F. Engels in den 1850 - 1860er
Jahren“. Zehn Jahre später verteidigt er seine Doktordissertation zum
Thema: „Das System der Kategorien der dialektischen
Logik im ‚Kapital’ von K. Marx“. Seine Artikelserie zum „Kapital“ wie auch alle
weiter unten genannten Artikel sind in Russisch abrufbar unter http://www.ilhs.tuc.gr/de/index.htm.
[9] Vgl. dazu seine
Monographie: „Die Genese der wissenschaftlichen Forschungsmethode von Karl
Marx“ (Mokau 1975, russ.) und seine Artikel „Für
ein historisches Herangehen an das Problem des Historischen und Logischen“
(1963); „Die Rolle von F. Engels im Vorfeld der Entdeckung der
materialistischen Geschichtsauffassung“ (1970); „Die materialistische
Überarbeitung der Hegelschen Entfremdungskonzeption durch Marx (anhand der
Pariser Manuskripte)“ (1971); „Marx’ Analyse der Funktionsweise der sozialen
Bedingtheit der Hegelschen Logik“ (1971); „Fragen der Theorie der
ökonomischen Gesellschaftsformationen in den Arbeiten von Marx:
historischer Aspekt“ (1983); „Probleme der materialistischen
Geschichtsauffassung in Engels’ Arbeit ‚Der Ursprung der Familie, des
Privateigentums und des Staates’ (1985).
Vazjulins Vorlesungszyklen an der
Moskauer Universität zur Geschichte der Marxschen Philosophie
gehörten zweifellos zum Besten, was die Philosophische Fakultät
damals zu bieten hatte – dies können Absolventen verschiedenster
Jahrgänge und Herkunftsländer bestätigen. Die wissenschaftlichen
Leistungen von Marx und Engels wurden hier nicht „nacherzählt“, sondern
als vom Reifestandpunkt der Theorie aus rekonstruierbarer, bestimmte notwendige
Stufen durchlaufender Entwicklungsprozess vorgeführt – eine philosophiehistorisch
und logisch durchdachte und die Vielschichtigkeit historisch-biographischer
Umstände einbeziehende Meisterleistung einer wissenschaftshistorischen
Rekonstruktion.
[10] Vgl. seine Artikel
„Zur Frage der Funktionsweise der Entwicklung theoretischer Erkenntnis“ (1964);
„Die methodologische Rolle des Problems des Historischen und Logischen in den
konkreten Wissenschaften“ (1970); „Verständiges und vernünftiges
Denken in der Entwicklung der Erkenntnis“ (1985)
[11] Vgl.
seine Stellungnahme zur Diskussion in „Die Dialektik des Geschichtsprozesses
und die Methodologie seiner Erforschung“ (Moskau 1978, russ.). Darin nimmt er
u. a. Bezug auf die Arbeit von Ferenz Tökei „Zur
Theorie der Gesellschaftsformation“ (Moskau 1975, russ.) und V. Ž. Kelle
in dessen Nachwort zu Tökei. Vgl. auch W.
Kelle/M. Kowalson, „Zur Diskussion über die
Methodologie des historischen Materialismus“, in: Sowjetwissenschaft,
Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge H. 1/1985; F. W. Konstantinov/J. Pletnikov u. a.,
Marxistisch-leninistische Theorie des historischen Prozesses, Berlin 1985; G. Stiehler, Gesellschaft und Geschichte, Berlin 1974; G. Stiehler, Dialektik und Gesellschaft, Berlin 1981; M. Brie,
Zur systematischen Darlegung der Kategorien des historischen Materialismus, in:
DZfPh, H. 8/1982
[12]Vgl. dazu den informativen Überblick über „Postsowjetische Marxisten in Russland“ von G. Mayer und W. Küttler, in: UTOPIE kreativ, H. 201/202, 2007
[13] Studenten konnten
ihn in seinen Vorlesungen und Seminaren schon immer als jemanden erleben, der
zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Problemen, aber auch zu
neuesten Entwicklungen in den Naturwissenschaften oder in der Medizin
gründlich informiert und durchdacht Stellung bezog. Seine Artikelthemen im
Umbruch der 1990er Jahre beziehen sich z. B. auf „Unsere Sozialdemokraten“
(1990); „Was dem Land durch die ‚Schule der Arbeitslosigkeit’ eines G. Popovs
droht“ (1991); „Das ‚Große Projekt’ von G. Sjuganow aus der Sicht eines
Marxisten“ (1999, 2001). Vgl. auch seine Konferenzbeiträge (2002, 2004) im
Anhang.
[14] In
deutscher Sprache sind von diesen beiden Autoren bisher erschienen: Eine neue
Weltunordnung? In: Berliner Debatte Initial 6/1992; Der Achtzehnte Brumaire des
Boris Jelzin oder Anmerkungen zum Rechtsstaat. In: Z. Zeitschrift Marxistische
Erneuerung, 13/1993; Und wieder eine verpasste Chance. Nach Russlands
Blutsonntag. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 16/1993; „Unsere
bemerkenswerten Demokraten“. Gespräch mit Gudrun Havemann. In: Utopie
kreativ, 27-28/1993; Faschistische Bedrohung aus Russland? In: Marxistische
Blätter 1/1995; Friedrich Engels – eine Verkörperung nicht realisierter
historischer Möglichkeiten. In: Marxistische Blätter 6/1995; Die
Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst. In:
Marxistische Blätter 2/1997; Oktoberrevolution: War der sozialistische
Kurs ein Fehler? In: Marxistische Blätter 6/1997; Weltimperialismus – eine
neue Etappe der Entwicklung. In: Marxistische Blätter 1/2000
(gekürzt, übersetzt v. W. Gerns); Revolution und Konterrevolution in
Russland. Neue Impulse Verlag Essen 2001 (übersetzt v. W. Gerns)
[15] Vgl.
http://www.ilhs.tuc.gr/de/index.htm
[16] Eine besonders
verdienstvolle Arbeit leisteten hier v. a. Dmitrios Patelis, Perikles Pavlidis und Manolis Dafermakis.
Zu ihren Veröffentlichungen vgl. http://www.ilhs.tuc.gr/de/index.htm
[17] vgl. Engels’
Formulierung im Vorwort zum 3. Bd. des „Kapital“, in: MEW Bd. 25, S. 20
[18] vgl. G. W. F. Hegel
in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, Berlin 1964, S. 33
[19] vgl. Vazjulins Ausführungen dazu im Referat von 2004, s. Anhang
[20] vgl. K. Marx, Grundrisse, a. a. O. S. 189
[21] vgl. K. Marx, Vorwort zur ersten Auflage des „ Kapital“, in: MEW Bd. 23, S. 16
[22] Vgl. K. Marx, Nachwort zur zweiten Auflage des „Kapital“, in: MEW Bd. 23, S. 27
[23] vgl. K. Marx, Vorwort zur ersten Auflage des „Kapital“, in: MEW Bd. 23, S. 12
[24] vgl. die Ausführungen des Autors dazu im ersten Teil des vorliegenden Buches
[25] Vgl.
A. Arndt: Marx’ ‚Kapital’ und Hegels ‚Wissenschaft der Logik’. Rezension zu
Viktor Vazjulin: Die Logik des ‚Kapitals’ von Karl
Marx. In: Marx-Engels Jahrbuch 2006, Berlin: Akademie 2007, S. 263–271;
I. Stützle: Logik mit mittelgroßen Löchern. In: Z. Nr. 72/2007, S. 216–220
[26] Diese Erkenntnis wird heute
üblicherweise den Protagonisten der „Neuen Marx-Lektüre“
zugeschrieben. Statt des von Ingo Elbe (in „Marx im Westen“, Berlin 2008)
kritisierten „Engelsismus“ liegt bei Vazjulin seit 1962/63 eine kritische Auseinandersetzung mit
den voneinander differierenden Ansätzen von Marx und Engels bezüglich
der logischen und historischen Methode vor, die eine „vulgär-naive“, „historizistische Deutung der formgenetischen Methode“ des
„Kapitals“ eindeutig ausschließt, ohne es dafür nötig zu haben,
Marx gegen Engels auszuspielen (vgl. dazu Vazjulins
Dissertation und den Artikel: Für ein historisches Herangehen an das
Problem des Historischen und des Logischen, in: Filosofskie
nauki 2/1963, russ). Dem
deutschsprachigen Leser war diese Interpretation seit 1987 zugänglich
(vgl. W. A. Wasjulin, Das Historische und das
Logische in der Methodologie von Karl Marx, in: Jahrbuch des IMSF, FaM 1987, S. 238–244, ausführlicher in: V. A. Vazjulin, Die Logik des „Kapitals“ von Karl Marx,
Norderstedt 2006)
[27] also
z. B. nicht allein mit Hilfe von drei, zweifelsohne wichtigen, Dimensionen
gesellschaftlicher Reproduktion wie „Subsistenz“, „Familie“ und „Politik“, wie es unternommen
wurde in der sehr anregenden und materialreichen Arbeit
von L. Lambrecht/K. H. Tjaden/M. Tjaden-Steinhauer: Gesellschaft von Olduvai bis Uruk, Kassel 1998
[28] Der
dazu nötige Positionswechsel vom Standpunkt der bloßen Negation des
Kapitals auf den Standpunkt einer erst im Ansatz gebildeten, in vielen
Zügen nur antizipierbaren reifen menschlichen Gesellschaft sollte
keinesfalls mit dem damals verbreiteten „kommunistischen Hochmut“ verwechselt
werden, der sich schon stets auf der Seite der „Sieger der Geschichte“
wähnte.
[29] vgl.
K. Marx, Grundrisse, a. a. O. S. 25
[30] vgl.
W. J. Mommsen: Geschichte und Geschichten: Über die Möglichkeiten und
Grenzen der Universalgeschichtsschreibung. In: Saeculum,
Jb. für Universalgeschichte 43, Freiburg, München, S. 124–135
[31] vgl.
K. Marx, F. Engels: Die deutsche Ideologie, in. MEW Bd. 3, S. 38
[32] vgl. F. Engels: K.
Marx. Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW Bd. 13, S. 474f.
[33] Ausspruch eines Redners auf einer Moskauer Parteikonferenz von 1989, zitiert bei Vazjulin in seinem Artikel: „Die Geschichte und das kommunistische Ideal“
[34] Vgl. MEW Bd. 13, S.
42f.