Interview mit Dimitrios Patelis [1]
Die ukrainische Phase eines dritten Weltkriegs?
G.H.: Wie werden die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine unter griechischen Linken gedeutet?
D.P.: Soweit ich das verfolgen kann, gibt es bei vielen Linken bei uns wie auch in Russland leider nur ein oberflächliches, reflexhaftes Herangehen an die neue Situation. Einige teilen das vorherrschende Narrativ, demzufolge ein gewisser unschuldiger Staat, der sich auf dem Weg zu seiner Unabhängigkeit und Souveränität befand, der gerechtfertigter Weise seine eigenen Bündnisse zu schmieden versuchte und dafür einfach nur seine Verteidigungsfähigkeiten aufbauen wollte, plötzlich von einem brutalen Aggressor überfallen wurde, der ein schauerliches Blutvergießen in Gang setzte. Neben dieser offiziellen Variante der Legende, die flächendeckend und „alternativlos“ in sämtlichen westlichen Medien in Umlauf gebracht wurde, wird noch eine andere Version vertreten, nämlich die abstrakt-pazifistische. Sie verurteilt jeden Krieg als gleichermaßen ungerecht und hält Krieg an sich für das „absolut Böse“, das es zu bekämpfen gilt. Einige verurteilen diesen Krieg aus ihrer antiimperialistischer Haltung heraus, in schlichtem Analogieschluss zu 1914, als einen Krieg zwischen imperialistischen Mächten. Beide Versionen laufen praktisch leider auf das Gleiche hinaus: Ihre Anhänger belasten sich nicht weiter mit der Frage, in welcher Epoche wir eigentlich gerade leben, welche treibenden Kräfte in den gesellschaftlicher Veränderungen auf globaler, regionaler, nationaler Ebene wirksam sind, wessen ökonomischen, politischen, sozialen, militärischen Interessen hier gegeneinander stoßen, von welcher Art die Widersprüche sind, in deren Ergebnis dieser Krieg entfesselt wurde ... Ich weiß nicht, wie es bei euch aussieht, aber bei uns herrscht so eine clip-mäßige, selektive Wahrnehmung vor, die unfähig scheint, sich mit historisch längerfristigen, komplexeren Zusammenhängen zu befassen. Unsere im Parlament vertretene KKE hat sich jedenfalls wenig darum bemüht zu erkunden, welche realen Veränderungen in der kapitalistischen Welt seit Lenins Imperialismus-Theorie sich vollzogen haben, seit den frühsozialistischen Revolutionen und den antikolonialen Befreiungsbewegungen, seit Aufstieg und Zerfall der UdSSR und der osteuropäischen staatssozialistischen Länder, mit der Restauration der Kapitalherrschaft in dieser Region, mit den Umwälzungen in der Weltwirtschaft durch wissenschaftlich-technische Revolution, Digitalisierung und Globalisierung der Produktions- und Austauschprozesse – und was das alles für eine linke Bewegung zu bedeuten hat.
In der Regel grassiert der nackte Empirismus bzw. Pragmatismus.
G.H.: In deinen wissenschaftlichen Arbeiten[2] untersuchst du die wesentlichen Strukturmerkmale des aktuellen Stadiums imperialistischer Globalisierung genauer und konstatierst, dass sich das kapitalistische Weltsystem in einer dritten tiefen Strukturkrise befindet. Die beiden vorangegangenen Strukturkrisen hätten sich in zwei Weltkriegen entladen. Heute siehst du bereits eine ganze Welle militärischer Zusammenstöße von globaler Dimension im Gange, zu denen du den Ukraine-Krieg als eine Phase dieser Welle zählst. Würdest du diese Position kurz erläutern, bevor wir auf die unmittelbaren Kontrahenten des Ukraine-Kriegs zu sprechen kommen?
D.P.: Der wesentliche Unterschied des gegenwärtigen Imperialismus-Stadiums zu dem von Lenin seinerzeit analysierten liegt aus meiner Sicht in der tendenziellen Unterordnung der Menschheit unter die Herrschaft transnationaler Monopolgruppen auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene. In diesem Stadium kommt es zu strukturellen Veränderungen in der internationalen und regionalen Arbeitsteilung, die es erforderlich machen, die Rahmenbedingungen für die extensive und intensive Entwicklung kapitalistischer Produktion neu zu bestimmen. Begleitet wird das von der tendenziellen Subsumtion aller Kapitalformen unter das Finanzkapital und Kreditsystem, unter die Finanzoligarchie als deren Funktionsträger. Das betrifft die verschiedensten und höchst vermittelten und komplexen Eigentumsformen, es betrifft die verschiedensten Ebenen des fiktiven Kapitals mit all seinen Möglichkeiten, den realen produktiven und unproduktiven Prozessen der Reproduktion seinen Stempel aufzudrücken oder die Kontrolle über diese oder jene Produktionsbereiche und Regionen der Welt zu erlangen.
Im Zusammenhang mit der Digitalisierung, mit der Entwicklung der Kommunikationstechnologien, der Nanotechnologien, Biotechnologien und Technologien zur Kosmoserkundung beeinflusst die technologische Umwälzung der Produktion im Rahmen des derzeitigen imperialistischen Entwicklungsstadiums nicht mehr nur den bloßen Warenhandel und Kapitalexport, wie zu Lenins Zeiten, sondern bringt Veränderungen im Inneren des Produktions-und Reproduktionsprozesses mit sich: Es bilden sich bereits technologische und organisatorische Grundlagen für die Vereinigung der Menschheit auf Ebene des Produktionsprozesses heraus. Doch bleibt dieser Prozess im Rahmen des Konkurrenzkampfes zwischen transnationalen Monopolgruppen und aufgrund der realen Subsumtion der globalen Arbeiterklasse unter die Finanzoligarchie stecken.
In diesem Zusammenhang entstehen immer wieder bestimmte Arten von Widersprüchen, die ganz offensichtlich im Rahmen dieses Gesellschaftssystems auf friedlichem Wege unlösbar sind. Daraus erwachsen Anlässe für einen imperialistischen Weltkrieg, mit deren Hilfe das Kapital versucht, innerhalb des gegebenen globalen Kräfteverhältnisses sich selbst und seine Produktion zu restrukturieren, und, auf den jeweils erreichten Stand seiner Technologien setzend, technisch-wirtschaftliche Vorteile im globalen Kräfteringen um die Erzielung von Extraprofiten zu erlangen, darunter auch auf Kosten aller abhängigen Länder und aller kleiner dimensionierten Kapitalformen.
Nach der Niederlage des Frühsozialismus und der Aufteilung seines Erbes zwischen den großen transnationalen Monopolgruppen vertiefte sich erneut die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Produktion, der Infrastruktur, der technologischen Struktur, des Grades von Organisation und Arbeitsproduktivität in den verschiedenen Weltregionen und führte zu Restrukturierungen und Verschiebungen in der globalen Kräftekonstellation.
Obwohl sich die derzeitige dritte Strukturkrise bereits in den 1970 Jahren im Zuge der sogenannten Ölkrise anbahnte, ließ sich jedoch ihre „Entladung“ zunächst aufschieben, weil die zuvor erreichte Schranke der extensiven Entwicklung weit verschoben werden konnte: Die Natur- und Arbeitskraftressourcen der ehemals sozialistischen Länder boten den traditionellen Zentren des Weltkapitals plötzlich riesige Entfaltungsmöglichkeiten. Sie ermöglichten ihm, seine inneren Krisenmomente abzufedern bzw. vor sich her zu schieben, letztlich bis zum Jahre 2006/2008, wo sie in der Weltfinanzkrise wieder offen zutage traten. Diese dritte große Strukturkrise ist insofern unikal, dass sie sich bis heute fortsetzt, sogar ungeachtet der Pandemie, die bereits viele Möglichkeiten zur Kapitalzerstörung mit sich brachte, einschließlich der damit einhergegangenen Außerwertsetzung der Hauptproduktivkraft Mensch: 6 Millionen Menschen verstarben weltweit infolge der Pandemie. Im Zuge der Pandemie-Bekämpfung konnten zudem weitere neoliberale Manipulationstechniken erprobt werden. Dass die Krise bis heute nicht überwunden werden konnte, lässt befürchten, dass nun, zwecks Entladung der Spannungen, erneut eine offenere Variante, ein heißer, imperialistischer Weltkrieg, ein dritter Weltkrieg forciert wird.
Professor Vazjulin sprach bereits vor der Jahrtausendwende von einem zu beobachtenden „eigenartigen, in der Geschichte beispiellosen, von Zeit zu Zeit auflodernden und wieder abebbenden dritten Weltkrieg“.[3]
G.H.: Du siehst den derzeitigen Angriff auf die Ukraine also nicht als ersten Akt eines möglichen, sondern als weiteres Kettenglied eines schon ausgebrochenen Krieges?
D.P.: Erste Akte dieses Krieges fanden ja schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Frühsozialismus in der Sowjetunion und in den Ländern ihrer osteuropäischen Verbündeten statt: Der Golfkrieg endete mit der Zerstörung des Iraks. Sodann folgte die Zerstörung Jugoslawiens – beide Prozesse setzen sich bis heute fort. Schon damals vertraten Spezialisten und Strategen des Imperialismus, aber auch nüchterne Marxisten die Ansicht: Was bei der militärischen Zerstörung Jugoslawiens geschah, könnte als Blaupause dafür dienen, wie künftig der größte Staatsverband behandelt werden wird, der nach der Auflösung der UdSSR noch übrig geblieben war - also Russland selbst. Die im Jugoslawienkrieg erworbene Erfahrung schien den westlichen Strategen zu bestätigen, dass man die „ungerechtfertigte“ Existenz eines so großen Staates mit so reichen Naturschätzen nicht einfach hinnehmen müsse. Zbigniew Brzezinski (wie mit und nach ihm auch andere wichtige Vordenker der US-Geostrategie) hielt es für vernünftiger, die Russische Föderation mindestens in acht Staaten aufzuteilen und diese ihrer Rolle entsprechend an die euroatlantische Achse anzuschließen, was für die Entwicklung dieser Achse unabdingbar sei. Russland mit der Ukraine sei eine Supermacht, ohne Ukraine dagegen nur eine Regionalmacht, die kontrolliert, untergeordnet und aufgeteilt werden könne.
Nach dem Irak und Jugoslawien wurden bekanntlich auch Afghanistan, Libyen und Syrien zu Schauplätzen auflodernder Weltkriegsaktionen gemacht. In Syrien wurden Aktivitäten von acht bis zehn Staaten beobachtet (natürlich mit ganz verschiedenen Rollen und Dimensionen ihrer Beteiligung): War das etwa ein Bürgerkrieg des syrischen Volkes, ein lokaler oder regionaler Konflikt? Das anzunehmen wäre sehr naiv. Wie viele Staaten waren beteiligt, als Jugoslawien zerstört wurde? Zumindest doch alle EU- und NATO-Staaten und ihre Verbündeten. Analoge Schlüsse lassen sich in Bezug auf den Irak, die Zerstörung Libyens, auf Afghanistan oder Jemen beziehen, in dem es schon Millionen Opfer gibt und keiner darüber spricht, und wo an der Spitze derjenigen Koalition, die gerade einen Genozid gegen das jemenitische Volk verübt, der strategische NATO-Partner Saudi-Arabien steht.
Als andere Version der Widerspruchsentladung erwiesen sich Versuche zum „Regime Change“ in verschiedenen Ländern, durch gezielte Unterstützung verschiedener „Farbrevolutionen“ oder des „Arabischen Frühlings“. Trotz vielerorts gehegter Hoffnungen und Illusionen in Hinblick auf den revolutionären Charakter solcher Bewegungen führten diese durch ihre konterrevolutionäre Vereinnahmung letztlich stets zum Gegenteil – nämlich zur Stärkung der euroatlantischen Achse.
Die traditionellen Hegemonialmächte, also Nordamerika unter Führung der USA, die Europäische Union unter Führung Deutschlands und das japanisch geführte fernöstliche Machtzentrum greifen inzwischen zu immer gewaltförmigeren Mitteln der Umverteilung ihrer Einflusssphären, aber auch der Umverteilung ihrer Kontrollmöglichkeiten über unbotmäßige Staaten oder andere politische Akteure und Bündnisse. Durch hybride Beeinflussung oder direkte militärische Einmischung streben sie danach, die Entfaltung eines alternativen Entwicklungspols auf der Erde zu vereiteln, ja überhaupt beliebige Möglichkeiten alternativer Entwicklung zu verhindern. Sie sind bestrebt, mit aller Macht die Herausbildung von Subjekten jeglicher alternativer Varianten der wirtschaftlichen, politischen, militärischen, selbst kulturellen Tätigkeiten verschiedener Länder und Völker zu blockieren.
In meinen Augen handelt es sich also bei diesem Krieg nicht um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, nicht mal zwischen Russland und der NATO, sondern um einen beginnenden Krieg gegen den Hegemonialanspruch des alten, noch starken, aber im Abstieg befindlichen euroatlantischen imperialistischen Machtblocks, der insbesondere in den letzten 30 Jahren der Welt seine neoliberale Ordnung aufzuzwingen vermochte.
„Im Abstieg befindlich“ ist nicht im militärischen Sinne gemeint, denn da steht bekanntlich ein gigantisches Potential bereit, das bis zuletzt ausgereizt werden wird, worin die große Gefahr der aktuellen Konfrontation liegt, sondern im Sinne des Verlustes seiner wirtschaftlichen Position im globalen Kräfteverhältnis, gegenüber dem anderen, aufsteigenden Pol.
G.H.: Worin erkennst du einen solchen alternativen Gegenpol zu den traditionellen Hegemonialmächten?
D.P.: Zu ihrem alternativen Gegenpol entwickelt sich die wirtschaftlich in rasantem Tempo aufsteigende Volksrepublik China, um die herum sich eine Gruppe von Ländern und Bündnissen sammelt, die sich zunehmend der Unterordnung unter die Hegemonie der euroatlantischen Achsenmächte widersetzen. Russland rechne ich dazu.
Bis vor kurzem ging auch ich davon aus, dass China längst ein kapitalistisches Land unter vielen sei. Nach eingehenderen eigenen Recherchen zu Wirtschaft, Politik, Sozialstruktur, Kultur dieser Gesellschaft komme ich heute zu einem anderen Schluss. Ich sehe in der VR China das Ergebnis einer zweiten großen frühsozialistischen Revolution, entstanden im Rahmen des revolutionären Weltprozesses des 20. Jahrhunderts, deren Existenzdauer als sozialistisch ausgerichtetes Land demnächst die der Sowjetunion übertreffen wird. China hat eine höchst widersprüchliche Entwicklung hinter sich: Der Auftakt als bürgerkriegs- und interventionskriegsgeschädigtes, rückständiges Land mit einer Produktivität, die noch weit hinter der des zaristischen Russlands 1913 lag, führte über eine Art „Kasernensozialismus“ zu ersten Versuchen einer Industrialisierung, die zunächst nur durch die Unterstützung der UdSSR gelingen konnten und über Umwege sowie unter Inkaufnahme großer Opferzahlen in Gang gesetzt wurde. Nachdem sich China mit der UdSSR tragischer weise überworfen hatte, suchte es ab den 1970er Jahren eine außenpolitische Anlehnung an die USA bzw. die euroatlantische Achse, die sich ihrerseits auch China gerne dienstbar machen wollte als Gegengewicht zur UdSSR und zum RGW. Gegen Ende der 1970er Jahre machten rasch aufblühende Freihandelszonen in den Küstengebieten von sich reden und schienen der Reformwut der KP und dem kapitalistischen Privatunternehmertum keinerlei Grenzen mehr gesetzt. Damals war ich entsetzt – wurden denn jetzt alle Prinzipien fallengelassen? Doch muss ich anerkennen, mit welchem Erfolg es der chinesischen Führung gelang, zwar mittels der Versuch-und-Irrtum-Methode zu lavieren, aber ihr Schiff durch alle Gefahren hindurch zu steuern und dabei sehr bewusst die Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge der sowjetischen Führung im Zuge der Perestroika-Reformen zu studieren und zu berücksichtigen, die bekanntlich zur Restauration des Kapitalismus führten. Wäre 1989 der Aufstand auf dem Tiananmen-Platz nicht unterdrückt worden, hätten wir dort wohl eine weitere Version der Perestroika und deren desaströse Folgen erlebt.
Obwohl in den 1990er Jahren eine beinahe wildwüchsige Umgestaltung der Wirtschaft zugelassen wurde, in deren Ergebnis die Produktionskapazitäten extensiv erweitert wurden, und zwar durch ausländische Investoren, die billige Arbeitskräfte und Rohstoffe zur Erwirtschaftung ihrer Maximalprofite ausbeuten durften, unter Anwendung roher, schmutziger Ausbeutungsformen, die im Westen bereits überwunden worden waren, verhielt sich die chinesische Führung dennoch weitsichtig und behielt stets die wichtigsten Zügel der Wirtschaftslenkung in der Hand. Sie begriff die zentrale Bedeutung der Entwicklung der Arbeitsproduktivität als den fürs Überleben als sozialistisches Land notwendigen Schlüssel ihrer Strategie. Taktisch förderte sie hochproduktive Hightech-Firmen, z.T. auch auf Kosten der Zerstörung von Gemeindestrukturen im Binnenland und der Anwerbung von Bauern als Billiglohnarbeitskräfte in den Freihandelszonen, wo sich nach Investitionen westlicher Monopolfirmen völlig neue Industrien etablierten. Gezielt wurde dabei aber darauf geachtet, die Eigentumsrechte auf dem Lande zu wahren, d.h. Grund und Boden in Staatseigentum zu belassen. In der Form von Staatseigentum gehalten und gemäß einer Fünf-, Zwanzig- oder Fünfzig-Jahresplanung entwickelt werden neben landwirtschaftlichen Großbetrieben auch andere strategisch wichtige Produktionssphären (Maschinenbau, Elektroenergie, Transport, Telekommunikation) sowie das Kredit- und Finanzwesen – was in dieser Größenordnung wohl kein anderes kapitalistisches Land von sich behaupten kann. Unterhalb dieser strategischen Kernprozesse entfaltet sich Unternehmertum in den verschiedensten Eigentumsformen. Dazu gehören Aktiengesellschaften, deren Kontrollpaket beim Staat liegt und die von einem Direktorenrat geleitet werden, oder auch Genossenschaften. Wer weiß beispielsweise, dass die bekannte Firma Huawei eine Genossenschaft ist? Sie wird getragen von den Angestellten der Firma, die begrenzte Anteile erwerben und auch wieder veräußern können, und verwaltet von der Gewerkschaft als Vertreterin des Arbeiterkollektivs. Auf der Ebene des Mittelstandes
und Kleinunternehmertums gibt es viele freie, wenngleich nicht regelfreie Entfaltungsmöglichkeiten. Diese mehrgliedrige Wirtschaftsstruktur wird in den wechselseitigen Verflechtungen ihrer Einheiten durch ein System von Anreizen und Hebeln (Subventionen, Steuervorteile, fiskalpolitische Faktoren) beeinflusst und aktuellen Anforderungen angepasst.
Im Ergebnis all dessen ist China wohl das erste große Land, das seine Rückständigkeit als koloniales Erbe der „Dritten Welt“ überwand, in historisch kurzer Zeit Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreien konnte und auf einigen Gebieten beeindruckende wissenschaftlich-technisch revolutionäre Errungenschaften vorzuweisen hat.
G.H. Die hiesige Wahrnehmung Chinas als rasant aufsteigenden und daher tendenziell gefährlichen Global-Player des Weltkapitalismus geht meist einher mit der strikten Ablehnung seines autoritär-totalitären politischen Systems.
D.P.: Das ist nicht verwunderlich, aus meiner Sicht bedingen beide Fehldeutungen einander, entsprechen aber natürlich der üblichen, auf den bürgerlich-westlichen Horizont verengten Kritik an jeglichem Versuch in der Geschichte des 20. Jh., politisch mit der Dominanz des Kapitalverhältnisses und der Abhängigkeit von ihm zu brechen. Dieser Versuch konnte objektiv, infolge des internationalen Kräfteverhältnisses, nirgends ohne diktatorische, autoritäre Elemente auskommen.
In Bezug auf China wird in der gewohnten Schwarz-Weiß-Malerei aber oft völlig unterschätzt, welche politisch viel differenzierteren Strukturen direkter und indirekter Demokratie sich inzwischen „trotz“, im Rahmen oder auch in Ausübung der so „berüchtigten“ führenden Rolle der Kommunistischen Partei Chinas auf allen Verwaltungsebenen herausgebildet und entfaltet und die aktive politische Mitwirkung von vielen Millionen Menschen zur Voraussetzung haben. Natürlich lassen sich die anderen „Acht demokratischen Parteien und Gruppen“ (falls man sie im Westen selbst überhaupt zur Kenntnis nimmt), die Wahlen zu den Volkskongressen auf allen Ebenen, die Prozesse politischer Konsultation, der parteigelenkten Aus-und Fortbildung einer großen Schicht von Verwaltungskadern leicht diffamieren als Feigenblatt für autoritäres Durchregieren einer kleinen Führungsclique, wie es ja auch immer schon gegen alle je existierenden Volksdemokratien versucht wurde. Ob dieses Bild aber den realen Veränderungen und Entwicklungen eines sehr lebendigen und ganz offensichtlich lernfähigen Staatswesens entspricht, wage ich sehr zu bezweifeln.
G.H.: Kommen wir zurück zu Russland: Welche besondere Rolle nimmt es in dieser neuen globalen Kräftekonstellation ein?
D.P.: Nicht erst im Zuge der Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine mit der Verkündung des „totalen Wirtschaftskriegs“ gegen Russland zwang der euroatlantische Pol Russland noch nachhaltiger in Chinas Umarmung – und umgekehrt. Beiden trat er ja schon seit Jahren immer aggressiver entgegen. Es wird dabei genau registriert, dass Russland innerhalb dieses sich herausbildenden alternativen Pols das schwächere Glied ist.
In den dreißig Jahren seiner neuerlichen Herrschaft ist es dem russischen Kapital nicht gelungen, die wirtschaftliche Grundlage für eine elementare Unabhängigkeit und Souveränität des Landes zu schaffen. Schaut man sich die russische Kapitalstruktur an, die Struktur der Wirtschaftstätigkeiten, die Exportstruktur, so lässt sich erkennen, dass Russland ein Land ist, das im Wesentlichen Rohstoffe und Energieträger exportiert, nur in sehr geringem Maße auch Industriegüter. Das macht es zu einem typischen Rohstoff-Anhängsel des imperialistischen Weltsystems. Wo Russland Monopole ausgebildet hat, betreffen sie allein Naturressourcen, nur vier russische Monopolgruppen fallen überhaupt unter die 100 weltweit größten Global-Player. Natürlich sähen sich die russischen Oligarchen selbst lieber als Akteure eines eigenständigen Wirtschaftsimperiums – das wäre nett für sie, aber wer lässt sie ein in den Klub? Wer würde es Russland denn je erlauben, statt Rohstoffanhängsel ein vollwertiger imperialistischer Mitspieler zu werden?
Leider neigen unsere griechischen Linken dazu etwas zu verwechseln: Es ist nicht dasselbe, in einer imperialistischen Ära zu leben oder ein imperialistisches Land darzustellen. Obwohl bei Lenin studiert werden könnte, wozu es wichtig ist, die Dynamik des Kapitalismus als Weltganzem zu studieren, die Ungleichmäßigkeit und Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung der einzelnen Länder, deren Ursachen und deren Folgen für ihre Beziehungen untereinander zu verfolgen, ihren Platz und ihre Rolle im globalen Kräftesystem, die globalen Ausbeutungsformen zu erkennen, ist bei uns leider ein mechanisches, statisches Weltbild im Umlauf: Darin scheint es so, als ob die Staaten dieses Weltsystems einzelne Steine einer Pyramide bilden, von denen einige eben an der Spitze stehen und andere an einem anderen Platz, und „Ausbeutung“ findet allein innerhalb eines solchen „Steines“ statt, während es zwischen ihnen lediglich Bündnisse oder eine Gegnerschaft gibt ... Alle „Steine“ sind dann irgendwie imperialistisch und setzen eine imperialistische Politik durch. Dieses Schema ist nun aber wahrlich nicht geeignet, um die gegenwärtige Welt oder auch nur einen ihrer militärischen Konflikte zu erfassen, ja, es fällt eigentlich hinter die Errungenschaften von Lenins Imperialismus-Theorie zurück.
Russlands besondere und zutiefst widersprüchliche Rolle ergibt sich daraus, dass es eben keine imperialistische Wirtschaftsgroßmacht darstellt, sondern einen subalternen, wenn auch nicht unwichtigen Rohstofflieferanten für die Weltwirtschaft, zugleich aber von der Sowjetunion den Status einer „Superpower“ erbte, was sein katastrophales militärisches Einsatzpotential betrifft. Russland ist eine atomar bewaffnete Streitmacht, die in der Lage wäre, nicht nur die USA, sondern den gesamten Planeten zu zerstören, ohne dass irgendeine Spur von Leben zurückbleibt.
Nun lässt sich feststellen, dass der oben skizzierte alternative Pol des globalen Kräfteverhältnisses unter Chinas Führung – ob man will oder nicht – ohne das von der Sowjetunion übernommene Militärpotential Russland sehr verwundbar wäre.
Die jetzt ausgelöste militärische Konfrontation ist schon aus dieser Hinsicht keineswegs als lokale zu begreifen, es handelt sich nicht einfach nur um die Aggression eines Staates gegen einen anderen, sondern objektiv um eine grundlegende, ausgreifende Konfrontation von globaler Dimension. Wenn dieser größere Rahmen ignoriert wird, kann man die gegenwärtige Situation gar nicht adäquat erfassen.
G.H.: Bleiben wir zunächst bei den unmittelbaren Kontrahenten: Wie erklärst du die Entscheidung der Putin-Regierung zum Krieg?
D.P.: Um keinen Zweifel zu lassen: Ich halte jeglichen Krieg, besonders aber den sich jetzt in der Ukraine fortsetzenden Weltkrieg, für eine furchtbare Tragödie. Krieg führt immer zu unermesslichem Leid, zu unersetzbaren menschlichen Verlusten, zu Zerstörung und Einschnitten in den Lebensbedingungen, in der materiellen und geistigen Kultur der Völker. Außerdem empfinde große Abscheu vor jeder Bourgeoisie und halte die russische Bourgeoisie für eine der widerwärtigsten Spielarten von allen in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Vor allem deswegen, weil sie sich parasitär gegenüber den über Jahrzehnte mit Blut und Schweiß aufgebauten Leistungen der sowjetischen Bevölkerung verhalten hat, genau das ist ihr wesentliches Merkmal.
Noch dazu konnte ich bei meinem Besuch im Donbass 2015 mit eigenen Augen sehen, wie – gelinde gesagt – unaufrichtig sich diese russische Bourgeoisie samt ihres politischen Personals im Kreml gegenüber der Bevölkerung in den beiden Volksrepubliken verhalten hat, als diese über Jahre hinweg gegen die Kiewer Junta aufbegehrte und sich der militanten und mörderischen Aktionen gegen russischsprachige Mitbürger zu erwehren versuchte. Als die fortschrittlichsten Kräfte unter den Volksmilizen im Donbass schon tatsächlich einige erstaunliche Siege gegen Nazi-Bataillone und Teile der damals noch ziemlich desorganisierten ukrainischen Armee in Mariupol und Debalzewe errungen hatten, verschwanden auf mystische Weise nach und nach alle Leute, die noch irgendwelche klaren Vorstellungen vom einstigen Ziel des bewaffneten antioligarchischen, antiimperialistischen, antifaschistischen Aufstands hegten, das mir damals vor Ort zum Beispiel eine Reihe von Bergarbeitern erklärten mit dem Satz: „Unsere Heimat ist die Sowjetunion“.
Das war natürlich das letzte, was die Führung der russischen Bourgeoisie in ihrer Nachbarschaft gebrauchen konnte. Daher führte sie lange eine so halbherzige Politik gegenüber dem Donbass durch, fror den Konflikt ein und setzte der Bevölkerung die beiden Minsker Abkommen vor, mit den bekannten Folgen: Das Gemetzel ging unvermindert weiter. Hat man sich in Moskau oft dessen erinnert? Und diesen Leuten soll ich jetzt abnehmen, dass sie ganz plötzlich aus Patriotismus und Solidarität zugeben, es habe im Donbass einen Genozid gegeben, dem jetzt Einhalt zu gebieten sei? Natürlich nehme ich ihnen das nicht ab.
Was aber dann ist vorgefallen?
Es geschah das, was in den Stellungnahmen bzw. Ultimaten, die die russische Führung am 15. Dezember 2021 den Vertretern des USA bzw. der NATO überreichte, zum Ausdruck gebracht wurde, und wozu sie, ohne es wirklich zu wollen, sich gezwungen sah: Nämlich einen bestimmten Schlussstrich zu ziehen unter die NATO-Osterweiterung, unter die fortschreitende Militarisierung der Grenzzonen zu Russland, unter die NATO-geleiteten militärischen Ausbildungsaktivitäten und Manöver in der Ukraine, von denen noch nicht klar war, ob sie nicht auch den Atomwaffeneinsatz trainieren.
Sie stellten all diese Probleme zusammen und fanden dabei auch Gehör bei Ländern des alternativen Pols zur euroatlantischen Achse. Und sie stellten diese Frage nunmehr in aller Schärfe – ultimativ.
Allerdings nehme ich nicht an, dass die russische Führung wirklich imstande ist, eine so konsequente Politik zu betreiben, die zur inhaltlichen Umsetzung des Ultimatums führen könnte. Vielmehr beweist der Umstand, dass sie überhaupt die Entscheidung für den Krieg traf, wie manipulierbar sie ist. Es scheint einiges daraufhin zu deuten, dass sie von der militärtechnischen Seite überhaupt nicht darauf vorbereitet war, tatsächlich so weit zu gehen. Auch als dann die entsprechend schroffen Antworten seitens der USA und NATO eintrafen, die Russlands Sicherheitsbedenken und seine Forderung nach Garantie einer Nichtaufnahme der Ukraine in die NATO ein erneutes Mal komplett ignorierten, war der Kreml vermutlich zunächst höchstens bereit, probehalber zu demonstrieren, über welche militärtechnischen Möglichkeiten Russland inzwischen verfügte (darunter Hyperschallraketen, autonom gesteuerte U-Boote), indem er vielleicht einen kurzfristigen asymmetrischen Vorteil ausspielen könnte, um militärstrategisch eine Veränderung der Situation zu erzwingen.
Wie aber reagierten darauf die Westmächte, insbesondere die USA?
Sie traten eine derartige Hetzkampagne los, die alles bisher von einschlägigen Propagandamaschinen Bekannte in den Schatten stellte. Der russische Angriff auf die Ukraine wurde als beschlossene Sache verkündet und täglich kamen neue Termin-Ansagen dazu: Morgen überfallen die Russen die Ukraine, übermorgen, jetzt aber, definitiv am 16. Februar, etc.. Hier in Griechenland konnte das schon keiner mehr hören.
Irgendwie musste sich die russische Führung auch dadurch wohl letztlich genötigt, ja getrieben gefühlt haben, die Volksrepubliken anzuerkennen und zu deren Verteidigung ihre „spezielle Militäroperation“ zu beginnen. Daneben scheint es auch noch weitere unmittelbar auslösende Faktoren gegeben zu haben, wie die im Februar erfolgte ukrainische Truppenzusammenziehung zur Vorbereitung eines neuen Angriffs auf den Donbass, das arrogante Auftreten einiger westeuropäischer Politiker auf der Münchner Sicherheitskonferenz, u.a..
G.H.: Schauen wir auf die ukrainische Seite. Du verwendest in Bezug auf die Kiewer Regierung den – für Griechen historisch besonders eindeutigen – Begriff der „Junta“. Warum hältst du ihn für angemessen?
D.P.: Für mich besteht kein Zweifel daran, dass wir es spätestens seit den Ereignissen im Zuge des westlich orchestrierten Staatsstreiches 2014 gegen die gewählte Regierung unter Janukowytsch in Kiew de facto mit einer Junta, einer rechten Diktatur zu tun haben, noch dazu einer, die mit den reaktionärsten Kräften der euroatlantischen Achse verflochten ist. Sie hat eine längere Vorgeschichte.
Schon vor dem Ende der Sowjetunion, seit über 30 Jahren, konnte die Entfaltung starker nationalistischer Tendenzen in der Ukraine beobachtet werden, wozu ich übrigens auch Versuche nationalpatriotischer Indoktrination von Teilen der Bevölkerung seitens einiger ukrainischer Kommunisten selbst zähle. Sprunghaft verbreiteten sich solche Tendenzen ab 1990/1991, als sich ein Teil dieser früheren sowjetischen Funktionäre in Akteure nationaler Wiedererweckung und kapitalistischer Restauration verwandelten. Seit dem ersten Verbot der 3 Millionen mitgliederstarken Kommunistischen Partei der Ukraine noch im August 1991 lässt sich an deren wechselvoller Geschichte und der ihrer Nachfolgeorganisationen bzw. anderer linker Parteien verfolgen, wie bis heute zielgerichtet an der Verbannung eines ganzen Spektrums politischer Kräfte und ideologischer Positionen aus dem öffentlichen Leben gearbeitet wird: Alles, was noch an die UdSSR, den Sozialismus oder Kommunismus erinnert, wird als strikt zu bekämpfende Ideologie eines totalitären Regimes von Okkupanten denunziert – die dazu 2015 erlassenen „Dekommunisierungsgesetze“ sind bis heute in Kraft. Das ist insofern bemerkenswert, als dieser Kampf zugleich geführt wird im Gewand der Ernennung von Kollaborateuren der Wehrmachtsokkupanten zu ukrainischen Nationalhelden. Stepan-Bandera-Denkmäler schießen wie Pilze aus dem Boden, während systematisch alle Denkmäler der Sowjetepoche geschleift und Erinnerungen an sie getilgt werden. Jährliche Aufmärsche von einigen Hunderten bis Tausenden Rechtsradikalen an den Jubiläen der Gründung der Ukrainischen Aufstandsarmee oder zwecks Ehrung der Waffen-SS-Division Galizien werden in Lwiw, inzwischen aber auch Kiew polizeilich beschützt und von der Stadtregierung geduldet, wenn nicht gefördert: Nazistische Symbole wie Wolfsangel und Totenkopf, Schlachtrufe wie „Ukraine über alles“ gelten als legitim. Staatlich instruiert betreibt das Ukrainische Institut für Nationales Gedächtnis seit 2005 eine wissenschaftlich wie politisch höchst fragwürdige Geschichtsschreibung vor allem zwecks Umdeutung des Zweiten Weltkriegs und der Rolle der OUN und UPA darin; Generationen von Schulkindern werden bereits mit solchen neuen Lehrbüchern konfrontiert und mit dem Bandera-Gruß „Ruhm der Ukraine - den Helden Ruhm“ erzogen. Systematisch scheint diese Ideologie immer weitere gesellschaftliche Strukturen zu durchdringen, insbesondere sind die inneren Sicherheitsorgane, der Nationale Sicherheitsrat, die Geheimdienststrukturen, das Innenministerium, Polizei und Armee längst auch personell mit Leuten dieser Prägung durchsetzt. Zu ihrer Ausbildung trugen nachweislich auch britische und amerikanische Geheimdienste bei. Diese bemühten sich schon seit Ende des 2. Weltkriegs und im Zuge des Kalten Krieges besonders um nationalistisch-profaschistische Emigrantenkreise aus ganz Osteuropa. In den USA und auch in Kanada wurden dazu ganze „Forschungsinstitute“ gegründet, in denen Ausbildung solcher Kader und ihrer Nachfahren in Techniken der Affekt- und Meinungsmanipulation bzw. militärisches Training großzügig finanziert wurden.
Die fortgeschrittene institutionelle Verankerung der ultranationalistischen Ideologie mit dem Hinweis zu leugnen, dass der jetzige Präsident doch jüdischer Herkunft und demokratisch gewählt sei und rechte Parteien im Parlament kaum eine Rolle mehr spielen würden, halte ich nicht nur für naiv, sondern für eine höchst gefährliche Unterschätzung dieser Kräfte, die den Präsidenten selbst wohl auch stark unter Druck setzen.
Bei meinem Besuch im Donbass habe ich zudem leider ein klares Bild davon gewinnen müssen, was ein rassistisch-nazistischer Krieg gegen das eigene Volk in der Praxis bedeutet und dass das Wort „Genozid“ in diesem Zusammenhang keine leere Phrase ist. Nicht nur 2014 in Odessa, nicht nur seit 2014 im Donbass, an verschiedenen Orten in der ganzen Ukraine hat es inzwischen Massenterror gegeben, ungezählte und unaufgeklärte politische Morde an Journalisten, Schriftstellern Intellektuellen, politischen Aktivisten; es sind Menschen verschwunden, deren entstellte Leichen später im Wald gefunden wurden, es gab Fälle, als am Morgen jemand öffentlich geredet hat und am Abend seine Wohnung mitsamt seiner Familie abgebrannt war; es wüteten und wüten auch jetzt paramilitärische-parastaatliche Formationen, ohne Strafe fürchten zu müssen, vor allem aber die Bataillone Asow, Ajdar, Donbass, Dnepr 1 und 2 - gegen die eigene Zivilbevölkerung, gegen vermeintliche „prorussische Saboteure und Kollaborateure“, und das nun auch an vorderster Front der ukrainischen Armee!
Inzwischen wurden mit Kriegsverlauf alle „prorussischen“ Oppositionsparteien, Fernsehkanäle und übrige Medien in der Ukraine offiziell verboten.
G.H.: Wenn du von der „euroatlantischen Achse“ sprichst, in die der heutige ukrainische Staat bereits involviert sei -
D.P.: ... dann spreche ich nicht von einer äußerlichen Analogie, sondern von einer Tatsache. Und zwar in dem Sinne, dass es bestimmte überstaatliche Institutionen und Organisationen gibt, die gelenkt werden von den reaktionärsten, aggressivsten Teilen der internationalen Finanzoligarchie, des heutigen Monopolkapitalismus, an deren Spitze die politische und militärische Elite der USA steht und die von niemandem auf der Welt kontrolliert werden, die niemandem Rechenschaft schulden. Eben diese Kreise haben die zahlreichen Militärinvasionen in den verschiedensten Regionen der Welt, die Flächenbombardements gegen Großstädte im Nahen Osten, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten missliebiger Staaten, diverse politische Störaktionen, Wirtschaftsblockaden, Operationen zum Regimewechsel, die „Farbrevolutionen“ etc. veranlasst und zu verantworten. In eben solchen Institutionen, Organisationen, Think Tanks wurden die entsprechenden Akteure herangebildet, die dann u.a. auf die Ukraine, die baltischen Staaten, Georgien und anderswo losgelassen wurden und dort Regierungsposten, Ministerien, Ämter übernahmen; auch in Russland gibt es dafür Beispiele. Unter dem Jubel über den Sieg der jungen osteuropäischen Demokratien konnte in den Verfassungen von Estland und Lettland in den 1990er Jahren ein Apartheid-System juristisch verankert werden, in dem Bürger russischer Herkunft zu Nichtbürgern erklärt wurden.
Dass die NATO inzwischen tatsächlich eine bestimmte militärische Infrastruktur in der Ukraine, einem Nicht-NATO-Mitglied, aufgebaut hatte, wird inzwischen auch im Westen nicht mehr bestritten. Dass die Existenz zahlreicher amerikanischen Labore für die Herstellung von biologischen und chemischen Waffen nachgewiesen wurde, und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Armenien, Georgien, Kasachstan, ist für Experten kein Geheimnis.
So wurden und werden immer dichtere transnationale Netzwerke geknüpft, und offenbar erst die inneren, später dann die äußeren Bedingungen geschaffen, um weitergehende Aktionen im Sinne dieser Aggressionspolitik zum Erhalt der hegemonialen Rolle in der Welt zu ermöglichen.
Was sind wir für Idioten, in der Gemütlichkeit unseres Alltags und der Konsens-Illusion unserer Wohlstandsinsel befangen, die wir so tun, als ob uns das alles nicht beträfe?
Der Zynismus dieser absteigenden Hegemonialmacht ist grenzenlos, sie ist bereit, in der Ukraine kämpfen zu lassen „bis zum letzten Ukrainer“, denn sie pfeift auf das ukrainische Volk wie auf jedes andere.
Wenn in Europas Mitte ein ultranationalistischer Staat als Aufmarschgebiet für US- und NATO-Truppen geschaffen wird – kann uns das wirklich egal sein?
Ein Staat von so großer Dimension und fortschreitender nationalistischer Profilierung als Aufmarschbasis für die euroatlantische Achse gegen einen manichäisch zur übermächtigen Bedrohung aufgeblähten Feind - so etwas hat die Geschichte bisher nicht gesehen. Mit einer Ausnahme: die vereinigte europäische Union von einst, mit ihrem bewaffneten Arm, der Achse der Antikomintern unter Führung von Nazi-Deutschland. Viele haben längst vergessen, dass die Sowjetunion damals im Krieg nicht allein gegen Deutschland, sondern gegen diese erste Variante eines vereinigten Europas stand, das sich in kontinentalem Ausmaß gegen die Sowjetunion konstituiert hatte.
Man stelle sich übrigens einmal vor und denke ein bisschen weiter, was es heißen könnte, wenn das gegenwärtige Kiewer Regime in diesem Krieg siegen würde und als Musterbeispiel für Heldentum in Europa Schule machen würde.
Und wenn dann im Gefolge dessen Raketenabschussrampen für Atomwaffen in einer Entfernung voneinander aufgestellt werden, mit sich so verringernden Vorwarnzeiten, dass jeder beliebige Zufall, jedes geringste Missverständnis dazu führen kann, nicht nur Moskau, Russland, Europa, sondern die ganze Welt auszulöschen: Kann uns das egal sein?
Genau wegen dieser Problemlage aber ließ sich Russland in diesen Krieg ziehen, und genau dieser Eskalationsgefahr sind wir nun alle ausgesetzt!
G.H.: Könnte das nicht dahingehend missverstanden werden, dass Russland damit von der Verantwortung für den Ausbruch des Krieges zu entlasten wäre?
D.P.: Nein, die russische Führung ist in keiner Hinsicht von Verantwortung frei zu sprechen.
Als sich nach dem Staatsstreich in Kiew und seinen politischen Folgen 2014 die Volksrepubliken im Donbass bildeten, nachdem sie sich nach Referenden über ihre Autonomie dazu berechtigt fühlten, war das dem Kreml doch ziemlich egal.
Wenn nun, nach acht Jahren opferreicher militärischer Gegenwehr durch diese Republiken, die im Februar 2022 losgetretene ukrainische Offensive eine restlose „Säuberung“ der „Separatistengebiete“ von ihrer russischsprachigen Bevölkerung bewirkt hätte, hätte es dem Kreml mehr als nur Gesichtsverlust gekostet. Man weiß dort sehr wohl, wie Regimewechsel organisiert werden.
Es war womöglich der Schnittpunkt all jener Umstände – die sich zuspitzende Lage im Donbass, die dazu zwang, nun doch der dortigen Bevölkerung gegen die neuerliche ukrainische Offensive beizustehen, die ausdrückliche Weigerung des Westens zur Anerkennung russischer Sicherheitsinteressen und darüber hinaus vermutlich auch das Erkennen einer Möglichkeit, einen befristeten militärtechnischen Vorteil auszuspielen – der der russischen Führung im Februar den Schluss nahegelegt haben könnte, es habe sich für sie ein Handlungsfenster geöffnet, was dann schließlich zur Entscheidung über ihre „militärische Spezialoperation“ führte. Das könnte ihr Verständnis für Verantwortung in dieser Situation gewesen sein.
Zugleich scheint es aber auch einige verheerende Fehlkalkulationen gegeben zu haben.
Die betreffen aus meiner Sicht die Fehleinschätzung der Haltung der ukrainischen Bevölkerung, obwohl die lange angeheizte Russophobie ja bekannt war, wie auch die Unterschätzung des Potentials des militärisch-industriellen Komplexes und der Infrastruktur für die Luft-und Seestreitkräfte der Ukraine, das seit Jahrzehnten durch US- und NATO-Unterstützung modernisiert bzw. neu geschaffen wurde. Es gibt Einschätzungen von Militärexperten, die die ukrainische Armee für die kampffähigste NATO-Armee halten – Armee eines Landes, das formal der NATO nicht angehört. Im Zustand der Mobilmachung umfasst diese übrigens über 500 000 Soldaten. Die russische Armee ist mit einem Kontingent von weniger als 200 000 Soldaten eingerückt, obwohl jeder Experte weiß, dass selbst bei technischer Überlegenheit die eigene Truppenstärke zu der des Gegners im Verhältnis von 3:1 stehen sollte, wenn man diesen dann wirklich zu bezwingen beabsichtigt.
G.H.: Was ein Sieg der Ukraine bei weiterer militärischer Unterstützung der euroatlantischen Achse bedeuten könnte, hast du oben angedeutet. Ein Sieg Russlands scheint aber genauso wenig sicher oder möglich. Kann Russland überhaupt kapitulieren?
D.P.: Das ist ja gerade das Problem, nein, das kann diese Führung nicht zulassen, schon weil sie eine Woche später hinweggefegt werden würde. Sie kann aber diese „Spezialoperation“ auch nicht mit Erfolg zu Ende führen. Wo immer ihre Truppen bisher Territorien eroberten, besetzten, befreiten - möge sich jeder eines treffenden Begriffs bedienen - und wo immer sie weiter vormarschieren, rückten ukrainische Truppen aus dem Hinterland nach, rechneten mit „Saboteuren“ ab, teilten neue Waffen aus und stellten die „Ordnung“ wieder her ...
Nein, sie können so ihre Ziele nicht erreichen.
Mitunter wird unterstellt, wir seien „Putin-Versteher“. Ich selbst hege keinerlei Illusionen hinsichtlich dieser Regierung.
In der jetzigen Situation kann ich dagegen nur eine Chance entdecken, nämlich die unikale Chance für die Linke, endlich klar zu erkennen, dass der Kreml nicht imstande ist, weder diese selbst verkündete Aufgabe zu Ende zu bringen, noch die Wirtschaft oder Gesellschaft für einen solchen Krieg zu mobilisieren. Die russische Bourgeoisie und ihr politisches Personal beweist mit ihrer beschränkten historischen Perspektive dem Volk ihre völlige Untauglichkeit, die Existenz Russlands und seiner Bevölkerung selbst sicherzustellen.
G.H.: Die unter den meisten Menschen verbreitete Hoffnung auf Waffenstillstand und Friedenskompromisse, damit der Krieg endlich aufhöre, scheint zur Zeit nur wenige verantwortliche Akteure umzutreiben. Im Westen hat sich eine antirussische Einheitsfront gebildet, die Waffen liefert, statt Verhandlungen zu erzwingen, sie scheint so geschlossen wie nie zuvor. Die Entwicklung von Nationalismus und Militarismus, die Gefahr politischen Rechtsrucks wird auch in Westeuropa immer spürbarer.
D.P.: Diese Sorge ist völlig berechtigt. Sowohl im Ergebnis eines Sieges, als auch einer Niederlage der Ukraine wird der Prozess der Faschisierung auch hier voranschreiten, weil Krieg genau das befördert – Krieg befördert Nationalismus, Hass, Feindbilder und weiteren Krieg!
Was wir jetzt sehen, ist womöglich nur ein Präludium, es betrifft das „schwache“ Glied, das „starke“ aber ist China und der gesamte sich darum bildende Block unbotmäßiger Staaten mit antikolonialen, antiimperialistischen Traditionen, wie Kuba, Vietnam, Nordkorea, Laos, Iran, Nikaragua, Venezuela, Bolivien u.a..
Man schaue sich nur das Abstimmungsverhalten in der UNO an, an dem wir erkennen können, dass es sich nicht um einen Konflikt zwischen zwei imperialistischen Mächten handelt. Wir schmoren in unserer EU so in unserem eigenen Saft, dass wir uns nur in der Verurteilung des Angriffskrieges durch die Mehrheit der UNO-Mitgliedsländer bestätigt fühlen – nicht aber auch die mehrheitliche Ablehnung des „totalen Wirtschaftskrieges“ gegen Russland wahrnehmen.
Wir wollen auch überhaupt nicht wahrhaben, dass wir, die wir zu den privilegierten Bevölkerungsschichten der „Goldmilliarde“ gehören, zu den Ländern der transatlantischen Achse, global gesehen in der Minderheit sind, in jeglicher Hinsicht, wirtschaftlich, sozial, demographisch. Es scheint uns nicht zu beunruhigen, dass diese Achse nicht im geringsten daran denkt, ihren traditionellen Hegemonialanspruch aufzugeben, womöglich zurückzustecken zugunsten einer ausbalancierteren Entwicklungsweise aller Länder – eher scheint sie bereit dazu, die ganze Menschheit zu vernichten, als zurückzustecken. Und deswegen gibt es diesen Krieg. Er ist nicht erst am 24. Februar ausgebrochen.
Und es steht zu befürchten, dass er nicht auf die jetzt betroffene Region beschränkt bleibt.
G.H.: Im Atomzeitalter und angesichts der sich zuspitzenden ökologischen Krise eine überaus düstere Prognose. Stecken wir nicht in einer fürchterlichen Sackgasse?
D.P.: Natürlich sind das überaus düstere Aussichten, Schlimmeres könnte noch bevorstehen, allein in ökologischer Hinsicht. Nun werden wir uns in Europa auch noch das amerikanische Fracking-Gas andrehen lassen, mit all seinen jetzt schon überschaubaren Folgen – der weiteren Zerstörung des Grundwasserreservoirs der Erde, der Kontaminierung von Wasser und Boden, der Gefährdung geotektonischer Strukturen, ganz abgesehen von dem absurd hohen Energieverbrauch zu seiner Produktion.
Doch sehe ich nicht, warum wir uns dadurch völlig entmutigen lassen sollten.
Die Geschichte zeigt, dass mit jeder neuen Welle von Weltkriegen, in denen sich die Widersprüche des Weltkapitalismus entluden, auch immer neuen Wellen revolutionärer Prozesse, neue revolutionäre Subjekte entstanden, heranreiften, ihre Basis verbreitern konnten. Es ist zu erwarten, dass die Zuspitzung der Situation, die Verschlechterung der Lebensverhältnisse von den Bevölkerungsmassen in verschiedenen Regionen der Welt nicht unendlich lange hingenommen wird, sondern dass ihr Widerstand dagegen wachsen muss und wird. Es wird weltweit zu neuen Aktions- und Organisationsformen kommen, vielleicht sogar schneller und heftiger, als wir es bisher für möglich halten. Immer mehr Menschen werden unweigerlich begreifen, werden unmittelbar damit konfrontiert werden, dass nichts weniger als das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht. Auch in unserer näheren Umgebung werden immer mehr Leute aus ihrer Bequemlichkeit und Lethargie auftauchen und sich nüchterner mit den Zuständen in der Welt befassen müssen. Wir selbst können dies nach Kräften unterstützen und befördern und sollten uns nicht in unseren Alltagsroutinen vergraben, in der Illusion, dass schon alles so weitergehen würde wie bisher.
Für Menschen, die an marxistischer Theorieentwicklung arbeiten, gibt es darüber hinaus jede Menge zu tun.
Ausgewählte Veröffentlichungen des Autors:
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D. Patelis. On the Historical Specificity of the current stage of Capitalism and on the nature of the Era. // CONGRESSO INTERNACIONAL MARX EM MAIO 3, 4, 5 MAIO 2012. FACULDADE DE LETRAS DA UNIVERSIDADE DE LISBOA. D. Patelis. Capital accumulation, crisis and return to nature? // B. Laperche, N. Levratto and D. Uzunidis ed., Crisis, Innovation and Sustainable Development. The ecological opportunity., Cheltenham, UK – Northampton, MA, USA. Published by Edward Elgar, 2012 pp. 207-230. |
Patelis, Dimitrios, Zur Position von Kommunisten und Internationalisten zum antifaschistischen Bürgerkrieg in der Ukraine als Episode des dritten imperialistischen Weltkriegs, Athen, 2014, russ.
(Димитриос Пателис. О позиции коммунистов-интернационалистов по отношению к гражданской антифашистской воине на Украине, как к эпизоду третьей мировой империалистической воины.// Коллектив борьбы за революционное ОБЪЕДИНЕНИЕ ЧЕЛОВЕЧЕСТВА, Афины 12.9.2014.)
Patelis, Dimitrios, Zur wissenschaftlichen Politologie und Analyse der Dynamik des globalen Kräfteverhältnisses, Moskau 2014, russ.
(Димитриос Пателис. О научной политологии и об анализе динамики глобального соотношения сил.// Первый съезд Российского общества политологов, «Национальные интересы России: глобальные приоритеты, политические стратегии и перспективы», Суздаль 1-3 июля 2014. Изд. МГУ, 2014, с. 582-589.)
[1] Dr. Dimitrios Patelis ist Philosophieprofessor an der Technischen Universität Kreta. Das am 2.4.2022 geführte Interview knüpft an Ausführungen des Autors in seiner Videokonferenz mit Teilnehmern marxistischer Studienkreise in Russland vom 13.3.2022 an. – Gudrun Havemann)
[2] Vgl. die Auswahl einiger Veröffentlichungen im Anhang
[3] Vgl. Vazjulin, V.A., Logik der Geschichte, Norderstedt 2011, S. 358